Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (10 page)

BOOK: Sebastian
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»Wer hat dich geschlagen?«, fragte sie.
»Die Frau«, sagte er leise.
»Deine Mutter?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Frau bei der ich lebe. Sie … kümmert sich um mich.«
»Bist du ein Waise?«
Wieder Kopfschütteln. »Ich kenne meine Mutter nicht. Mein Vater … er will mich nicht, weil ich ein Inkubastard bin.« Er war sich nicht sicher, was das Wort bedeutete, aber er wusste, dass dieses Wort der Grund war, aus dem er niemals an einem sauberen Ort mit freundlichen Menschen leben würde.
»Wie heißt du?«
»Sebastian.«
»Ich bin Nadia.« Sie zögerte, musterte sein Gesicht und sah ihm tief in die grünen Augen. »Bist du Koltaks Sohn?«
Er nickte.
»Naja, dann... bin ich wohl deine Tante.« Sie stand auf und hielt ihm eine Hand entgegen. »Möchtest du mitkommen und bei mir wohnen, Sebastian?«
Aus ihrem Zorn war Traurigkeit geworden, aber in ihrem Innersten lagen unter dieser Trauer eine Wärme und eine Freundlichkeit, die sein junges Herz im Sturm eroberten.
Er stand auf und nahm die Hand, die ihm geboten wurde - und die beiden entfernten sich gemeinsam von der Halle der Zauberer.
Gelegenheit und Entscheidung. So, erklärte ihm Tante Nadia, funktionierten die Strömungen der Macht. Wenn jemand einen Herzenswunsch aussprach, hallte dieser Wunsch durch die Strömungen, und es geschahen Dinge, die demjenigen die Gelegenheit gaben, diesen Wunsch wahr werden zu lassen. Wie ein Tor, das sich nicht ganz schließt. Wie eine Frau, die zornig und besorgt über das Verschwinden ihres Ehemannes einen Weg entlangläuft und plötzlich genau da stehen bleibt, wo sich ein Junge
versteckt, der die gleichen grünen Augen hat wie ihre eigenen Kinder. Wie eine Hand, die ausgestreckt - und angenommen wird.
Sebastian schüttelte den Kopf, als er weiterging.
Reise leichten Herzens. Denk an etwas anderes, als an die Vergangenheit. Denk daran, wie es ist, in einer warmen Sommernacht in Philos Innenhof zu sitzen, Wein zu trinken und das Kommen und Gehen der Menschen zu betrachten, die sich einmal die dunkle Seite ansehen wollen. Stell dir vor, in Nadias Küche zu sitzen, in diesem Raum, der selbst am düstersten Tag voller Licht und Wärme ist. Denk an Nadias Vögel, diese schlauen, verspielten kleinen Plappermäuler. Reise leichten Herzens - oder dieser Ort wird dich mit Haut und Haaren verschlingen.
Die Muskeln in seinen Beinen brannten, als er die letzte Stufe erklomm. Sein Herz brannte auch, aber nicht von der Anstrengung.
Ein mit Kopfsteinen gepflasterter Weg führte durch die Steinmauern, welche die Häuser der Reichen schützten, die sich mittlerweile das Plateau mit den Zauberern teilten. Direkt gegenüber lag die Halle der Bittsteller - der einzige Zugang zu dem Gebiet, das die Zauberer als ihr Eigen betrachteten, der dem gemeinen Volk offenstand.
Als er die Straße überquerte, sah er aus dem Augenwinkel das Gebäude, das die rechte Seite des Anwesens der Zauberer beherrschte. Der Turm war das älteste Bauwerk der Stadt und selbst heute, Jahrhunderte nach seiner Errichtung, patrouillierten die Zauberer dort noch immer, hielten noch immer Wache.
Warum? Was hatten sie einst gefürchtet, dass sie auf dem höchsten Hügel der Landschaft ihr Quartier errichteten? Was fürchteten sie immer noch, dass sie weiterhin Wache hielten?
Er schüttelte den Kopf und verbannte diese Gedanken aus seinem Geist. Die Zauberer behaupteten, sie müssten nichts fürchten. Er wusste, dass dies nicht der Wahrheit
entsprach - zumindest nicht in den letzten fünfzehn Jahren. Und das war der einzige Grund, aus dem er den Mut schöpfte, diese Stadt zu betreten.
Die Halle der Bittsteller grenzte an die Mauer, die das Herrschaftsgebiet der Zauberer umgab und war von der Halle der Zauberer durch den großen Innenhof und den Garten getrennt, durch den er vor so vielen Jahren gelaufen war. Er wirkte noch immer offen und freundlich, wenn man die Tatsache außer Acht ließ, dass nur eines der Tore neben der Halle der Bittsteller einen Weg in den Rest der Stadt bot.
Er öffnete die Tür der Halle und trat in einen langgestreckten Raum mit steinernem Fußboden. Schmucklose Holzbänke, die ohne Zweifel unbequem waren, wenn man längere Zeit auf ihnen sitzen musste, standen an den Wänden. Der Raum wurde von Öllampen erhellt, die von der Decke hingen und Tag und Nacht brennen mussten, weil es keine Fenster gab, die Licht hereinlassen konnten. Der Ort fühlte sich so kalt und hart an, wie der Stein, aus dem er erbaut worden war.
Er ließ die Tür auf, eher um sich einen Fluchtweg offen zu halten als aus Unhöflichkeit, und ging auf den Schreibtisch zu, der am Ende des Raums stand.
Hier zeigte sich der Luxus, mit dem sich die Zauberer gern umgaben. Der große, polierte Holztisch schimmerte im Licht der Lampen. Unter ihm lagen dicke Teppiche, die die Füße eines jeden Diensthabenden vor der feuchten Kälte schützte, die der Stein verströmte.
Heute Abend war dies ein mürrischer junger Mann, der nun das Buch zuklappte, in dem er gelesen hatte und seine Hände darüber verschränkte. Das Abzeichen, das er auf seiner Robe trug, ließ jeden, der wusste, wofür die Symbole standen, wissen, dass er ein Zauberer der Zweiten Stufe war.
»Ich muss mit Zauberer Koltak sprechen«, sagte Sebastian.
»Es ist schon spät«, erwiderte der junge Zauberer scharf. »Zauberer Koltak empfängt heute Abend keine Bittsteller mehr. Nehmt Platz, und ich werde sehen, wer -«
»Mich wird Koltak trotzdem empfangen.«
Der Zauberer starrte ihn empört an. »Und wer seid Ihr?«,verlangte er zu wissen.
»Sebastian. Aus dem Sündenpfuhl.«
Sein mürrischer Gesichtsausdruck wich einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Aha. Er hatte die Geschichten gehört, die man sich früher in den Studentenquartieren zugeflüstert hatte - und die man sich vielleicht immer noch erzählte. Eine Lektion für die jungen Narren.
Der Zauberer nahm einen kleinen Bogen Pergament vom Stapel in einer Ecke seines Schreibtisches. Er griff so eilig nach seiner Feder und tauchte sie in das Tintenfass, dass er nicht bemerkte, dass Tinte auf die polierte Oberfläche des Tisches tropfte. Eilig kritzelte er etwas. »Junge!«, rief der Zauberer und faltete das Pergament, noch bevor die Tinte Zeit gehabt hatte, zu trocknen. Ein Kind, das auf einer Bank in der Nähe des Tisches vor sich hingedöst hatte, sprang auf, um der Aufforderung nachzukommen. Das gefaltete Pergament wurde übergeben, und der Junge stürzte aus der Tür in der hinteren Wand des Raumes.
Deine Feder tropft.
Ein einfacher Satz, der eine Fülle von Bedeutungen haben konnte, wenn ihn ein Inkubus aussprach. Er war versucht, herauszufinden, ob dieser junge Zauberer den Ruf eines Inkubus verlockender fand, als den eines Sukkubus, aber er hatte bereits genug Feinde unter den Zauberern.
Also warf er dem Zauberer lediglich einen Blick zu, der andeutete, dass nicht etwa die Reise zu diesem Ort der Grund war, aus dem er so zerzaust aussah.
Wenige Minuten später stürzte der Junge völlig außer Atem wieder in den Raum und überreichte dem Zauberer
einen Bogen gefaltetes Pergament. Der Mann sah erstaunt aus, als er den Befehl las, sagte dann aber: »Der Junge wird Euch führen.«
Sebastian schenkte dem Zauberer ein anmaßendes Lächeln und folgte dem Kind durch die Hintertür und über den Innenhof. Anstatt durch die Tür zu gehen, die ins Hauptgebäude führte, wandte sich der Junge nach rechts und brachte ihn zu einer anderen Tür.
Sebastians Nackenhaare stellten sich auf, als er bemerkte, dass die Fenster zu beiden Seiten der Tür genau dort ein seltsames Glitzern aufwiesen, wo das Licht der Lampen im Hof auf das Glas traf. Hölzerne Fensterläden waren auf der Außenseite der Fenster zurückgeklappt.
Der Junge öffnete die Tür und betrat den dunklen Raum.
Sebastian hörte das Klirren von Glas auf Metall, dann, wie jemand ein Streichholz anriss. Er blieb im Türrahmen stehen und sah zu, wie das Kind die Kerze anzündete und den Lampenschirm über den Kerzenhalter stülpte.
Als sich der Junge umwandte, um zu gehen, trat Sebastian in den Raum, um ihn durchzulassen. Aber als der Junge die Hand nach dem Griff ausstreckte, um die Tür zuzuziehen, hielt Sebastian sich instinktiv am Holz fest und knurrte: »Lass sie auf.«
Der Junge stürzte in die Nacht hinaus.
Weil ihm nicht klar war, warum er so reagiert hatte, betrachtete Sebastian die Tür - und fühlte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Die Tür hatte auf dieser Seite keinen Türgriff. Für jemanden, der sich in diesem Raum befand, gab es keine Möglichkeit, die Tür zu öffnen.
Er ließ sein Bündel von der Schulter rutschen, lehnte es gegen den Türrahmen und ging zu den Fenstern, immer auf ein Geräusch aus dem Innenhof lauschend.
Die Fenster bestanden aus dickem Glas, das bis in den
Stein hinein reichte. Ein Drahtgeflecht war in das Glas eingelassen. Selbst wenn es jemandem gelang, das Glas zu zerbrechen, würde ihm die Flucht durch ein Fenster nicht gelingen.
Sebastian drehte sich um und betrachtete den Raum. Ein Tisch, zwei Stühle und der Kerzenhalter mit dem gläsernen Lampenschirm. Keine andere sichtbare Möglichkeit, den Raum zu verlassen, obwohl es wahrscheinlich eine versteckte Tür oder etwas Ähnliches gab.
All dies bedeutete nur eins: Sobald sich die Tür schloss, war man ein Gefangener.
Seine Hände zitterten, als er zurück zur Tür ging und sein Bündel aufhob. Nachdem er es sich über die Schulter gelegt hatte, drehte er sich so, dass sein Rücken dem Innenhof nicht gänzlich zugewandt war. So wäre er zumindest gewarnt, wenn jemand auf ihn zustürzen sollte, um zu versuchen, ihn in den Raum zu stoßen.
Er hörte das Kratzen von Absätzen auf Stein. Sebastian ließ den Blick durch den Hof schweifen. Der Platz
wirkte
so offen, aber das Licht der Laternen spielte auf eine Art und Weise mit der Umgebung, dass es Stellen gab, die so tief im Schatten lagen, dass sich dort alles verstecken konnte.
»Warum bist du hier?«, fragte eine raue Stimme hinter ihm.
Sebastian fuhr so schnell herum, dass seine Nackenmuskeln schmerzhaft protestierten. Er fluchte leise, als er erkannte, dass er mit einem Taschenspielertrick hereingelegt worden war. Im Hof war niemand, aber die magische Ablenkung hatte es Koltak erlaubt, in den Raum zu schlüpfen, ohne die Lage der Geheimtür zu verraten.
»Hast du gehört, dass man mich endlich für einen Platz im Rat der Zauberer in Erwägung zieht und dich entschieden, alle daran zu erinnern, warum man mich all die Jahre übergangen hat?« Koltak sprach leise, aber das konnte den giftigen Tonfall seiner Stimme nicht mildern.
Ich schere mich einen Dreck um deinen verfluchten Ehrgeiz.
»Ich bin gekommen, um den Rechtsbringern einen Zwischenfall zu melden«, sagte Sebastian mit ebenso leiser Stimme. »Ich habe nach dir gefragt, weil ich dachte, das wäre dir lieber, als wenn ich mit einem anderen Zauberer spreche.«
»Die Rechtsbringer haben kein Interesse am Sündenpfuhl oder an dem, was dort vor sich geht«, entgegnete ihm Koltak ruhig.
»Auch dann nicht, wenn ein Mensch ermordet wurde?«
Koltak zögerte und machte dann wütend eine knappe Handbewegung. »Komm herein. Dir macht es vielleicht nichts aus, alles in der Öffentlichkeit zu besprechen, aber hier laufen die Dinge anders.«
»Ich bleibe, wo ich bin.«
Rote Flecken flammten auf Koltaks Wangen auf. »Was glaubst du, werde ich tun? Dich einschließen, verhungern lassen und behaupten, dass du nie hier gewesen bist?«
»Wenn du damit durchkämst, würdest du das ohne zu zögern tun«, erwiderte Sebastian.
»Als ob es jemanden interessieren würde, wenn du verschwindest.«
»Eine Person würde es interessieren.«
Der Name - und die Drohung - lagen unausgesprochen in der Luft.
Belladonna.
»Wir glauben, dass die Frau, die getötet wurde, aus einer reichen Familie stammt. Sie trug immer einen breiten Goldarmreif.«
»Jede Frau eines reichen Mannes trägt einen Goldarmreif«, knurrte Koltak. »Wie sah sie aus?«
»Ich weiß es nicht! Es war nicht genug von ihrem Gesicht übrig, um es dir beschreiben zu können.«
Koltak erblasste, aber Sebastian wusste nicht, ob wegen
dem, was er gesagt hatte, oder weil er laut geworden war.
»Hör mir zu, Koltak. Etwas Brutales, Bösartiges ist in den Pfuhl eingedrungen. Vor ein paar Tagen hat es einen Sukkubus umgebracht. Und jetzt musste eine menschliche Frau sterben.«
»Vielleicht wird es den Pfuhl auslöschen und euch Dämonen daran hindern, anständige Menschen dazu zu verführen, Dinge zu tun, die ihr Leben ruinieren.«
»Es leben nicht nur Dämonen im Pfuhl. Ich bin halb menschlich, wie du dich vielleicht erinnerst?«
Koltak zog die Lippen mit einem wütenden Knurren zurück. »An dir ist
nichts
menschlich!«
Sebastian wandte sich ab. Die Wunden in seinem Herzen hatten sich wohl nach all den Jahren doch noch nicht ganz geschlossen. Dann zwang er sich dazu, Koltak in die Augen zu sehen. »Du hast recht. Wie könnte etwas menschlich an mir sein mit einem Sukkubus als Mutter und dir als Vater?«
»Verschwinde!«
Er trat einen Schritt zurück und stand nun auf der Türschwelle. »Da draußen ist etwas, Koltak. Der Pfuhl ist vielleicht nicht sein einziges Jagdgebiet. Ich habe getan, was ich tun sollte. Ich habe den Rechtsbringern Bericht erstattet. Wenn du nichts unternimmst, weil ich derjenige war, der hierher gekommen ist, um dir davon zu erzählen, dann klebt das Blut der nächsten Person, die stirbt, an deinen Händen, nicht an meinen.«
Er trat aus dem Raum, nicht willens, dem Mann, dessen Samen er sein Leben verdankte, den Rücken zuzukehren - dem Mann, der ihn für seine bloße Existenz hasste.
Als die Tür ins Schloss fiel und ihn vor Koltaks Blicken verbarg, drehte er sich um und lief, so schnell er konnte, über den Hof. Er musste von diesem Hügel hinunter, hinaus aus dieser Stadt. Hier herrschten die Zauberer, und
sie befehligten die Wachen. Er könnte festgenommen und eingesperrt werden.
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis er das schmiedeeiserne Tor neben der Halle der Bittsteller erreichte. Als das Tor seinen Bemühungen, es zu öffnen, widerstand, schnürte es ihm die Kehle zu, bis er kaum noch atmen konnte.
BOOK: Sebastian
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