Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (2 page)

BOOK: Sebastian
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Seit zehn Jahren lebte er jetzt schon im Cottage, noch immer ein Teil des Pfuhls und doch von ihm getrennt.
»Ich hab dich gestern nicht gesehen«, sagte Teaser und holte Sebastian zurück in die Gegenwart. »Dachte mir, ich komme einfach mal vorbei und … sehe nach.«
Er hatte den gestrigen Tag mit Zeichnen verbracht - und alle Skizzen verbrannt, als er erkannte, dass er versucht hatte, Erinnerungen aus dem Tageslicht, an Aurora, das Heimatdorf seiner Tante Nadia, einzufangen. Dinge, die er als Kind, während der Zeiten, die er bei ihr verbracht hatte, gesehen hatte. Immer wieder war sein Vater Koltak aufgetaucht und hatte ihn fortgeholt, um ihn bei irgendeiner Frau im ärmlichen Viertel der Stadt, in der er lebte, abzuladen - bei einer Frau, die dafür bezahlt wurde, seine Gegenwart zu ertragen und ihm Nahrung, Wasser und einen Platz zum Schlafen zur Verfügung zu stellen. Die Hälfte der Zeit lebte er zusammen mit anderen verstoßenen Kindern auf der Straße und wurde wieder und wieder daran erinnert, wie leer und erbärmlich sein Leben doch sein sollte. Und dann kam Nadia und nahm ihn erneut mit zu sich nach Hause.
Nadias und Koltaks Willenskampf und der ständige Wechsel zwischen liebender Akzeptanz und kaltherzigem
Elend fand schließlich ein Ende, als er seinem Vater zum letzten Mal entkam, als Koltak bei Nadia auftauchte, um ihn mit zurück in die verhasste Stadt zu nehmen.
»Ich hatte zu tun«, sagte Sebastian und verdrängte die Erinnerung. Teaser grinste verschlagen. »Tröstest du immer noch alternde Jungfern und einsame Witwen? Du solltest dich nach etwas Lebendigerem umsehen. Jemand mit ein bisschen mehr Feuer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine von denen viel Spaß macht, wenn du dazu übergehst, es ihnen im richtigen Leben zu besorgen, anstatt nur in romantischen Träumen.« Er schnüffelte. Seine Augen weiteten sich. »Ist das Kaffee?«
Sebastian seufzte. Er hatte genügend Kaffeebohnen für zwei Tassen gemahlen. Es sah wohl so aus, als ob er teilen müsste. »Na dann komm.«
Als er zur Anrichte zurückging, folgte Teaser ihm auf dem Fuß. Nachdem er die Tüte mit den Kaffeebohnen, die Kaffeemühle und den Topf zum Aufbrühen begutachtet hatte, pfiff Teaser anerkennend. »Das ganze Programm. Vielleicht ist es doch lukrativer, als ich dachte, Jungfern und Witwen süße Träume und heiße Nächte zu bereiten.« Er hielt inne. »Aber du kaufst doch sonst nichts auf dem Schwarzmarkt.«
Sebastian nahm noch einen Becher vom Holztisch und füllte ihn mit Kaffee. »Ich habe die Sachen nicht vom Schwarzmarkt. Sie sind ein Geschenk von meiner Cousine und ihrem Bruder.« Als er sich umdrehte, um Teaser den Becher zu geben, sah er einen Moment lang Angst in den Augen des anderen Inkubus aufblitzen und bemerkte das leichte Zittern der Hand, die den Becher entgegennahm.
Die eingebildeten, selbstgerechten Menschen der anderen Landschaften sahen in den Inkuben und Sukkuben abstoßende Dämonen, und das, obwohl genug eben dieser Menschen sich nach der Art von Sex sehnten, die man nur mit einem solchen Partner haben konnte, um
den Bewohnern des Pfuhls ein komfortables Einkommen zu sichern. Aber es gab gefährlichere Dämonen, die durch ihre Welt streiften und Inkuben und Sukkuben konnten ebenso leicht als Beute enden, wie jeder Mensch. Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis er erkannte, dass andere Dämonen, die in den Pfuhl kamen, ihm nicht etwa aus dem Weg gingen, weil
er
ein harter Kerl war, sondern dass es an seiner menschlichen Verwandtschaft lag. Sie hatten keine Angst vor Lee, einem Brückenbauer mit der seltenen Fähigkeit, eine Landschaft über eine andere zu legen, aber Glorianna …
Kein
Dämon wollte sich ihren Zorn zuziehen - weil Glorianna Belladonna die Landschafferin war, die den Sündenpfuhl erschaffen hatte.
Er füllte seinen eigenen Becher, lehnte sich gegen die Anrichte, nippte an seinem Kaffee und schwieg.
Nach ein paar Minuten sagte Teaser: »Dieses Haus. Es ist … nett.« Er betrachtete den kleinen Tisch an der Wand, an dem Sebastian seine Mahlzeiten zu sich nahm, dann den größeren Tisch im Esszimmer. »Es sieht … nett aus.«
Es sieht menschlich aus
, dachte Sebastian mit dem Gefühl, bei etwas Unzüchtigem ertappt worden zu sein. In der Öffentlichkeit. In einer menschlichen Landschaft natürlich, schließlich war Unzucht im Pfuhl an der Tagesordnung. Peinlich berührt, dass jemand Zeuge seines Bedürfnisses geworden war, die Verbindung mit dem Rest Menschlichkeit, das er in sich trug, nicht zu verlieren, fühlte er die alte Bitterkeit in sich aufsteigen.
Nadia und er waren nicht blutsverwandt. Sie war mit dem Bruder seines Vaters verheiratet gewesen und hatte keinen Grund, mit Koltak um das Wohlergehen eines jungen Halb-Dämons zu kämpfen. Aber sie hatte gekämpft - und oft genug gewonnen, um ihm in seiner Kindheit immer wieder Zeiten zu schenken, in denen er gewusst hatte, wie es war, geliebt und akzeptiert zu werden. Alles
Gute, das ihm in den Landschaften der Menschen widerfahren war, hatte er ihr zu verdanken.
Das war der Grund, aus dem das Cottage ihn angezogen hatte. Das war der Grund, aus dem es eher einem menschlichen Heim ähnelte, als dem Schlupfwinkel eines Inkubus. Für seine Verführungskünste hatte er das Zimmer im Bordell. Dieser Ort erinnerte ihn daran, wie er sich gefühlt hatte, als er mit Nadia, Glorianna und Lee zusammengelebt hatte. Als er noch eine Verbindung zum Licht gehabt hatte.
Aber wenn die anderen Inkuben und Sukkuben herausfanden, dass er wie ein Mensch lebte, würden die hämischen Bemerkungen kein Ende nehmen - und er würde wieder als Außenseiter enden.
Er versuchte, mit dem letzten Schluck Kaffee die Bitterkeit herunterzuspülen. »Warum bist du hier Teaser?«, fragte er barsch. Teaser stürzte den Rest seines Kaffees hinunter, wollte die Tasse zur Seite stellen, zögerte, ging quer durch die Küche und stellte sie vorsichtig in die Spüle, so als ob es von größter Bedeutung wäre, die Ordnung im Cottage zu erhalten. Als er sich wieder zu Sebastian umdrehte, war sein Gesichtsausdruck düster. »Wir haben noch eine gefunden.«
 
Strömungen der Macht tanzen durch Ephemera, diese lebende, sich stets wandelnde Welt. Einige dieser Strömungen sind Licht, und andere sind Dunkel. Zwei Hälften eines Ganzen. Nichts ist das eine, ohne einen Teil des anderen. So ist der Lauf der Dinge.
Und es gibt nichts, was in der Lage ist, Licht und Dunkel so zu fokussieren, wie das menschliche Herz.
Wie sollen wir den Menschen erzählen, die noch immer erschüttert sind ob der Schrecken, die der Weltenfresser in Ephemera freisetzte, dass dieses Ding, das sie fürchten, nicht vollkommen vernichtet werden kann, weil es sich aus den dunkelsten Begierden ihrer eigenen
Herzen manifestiert hat? Wie können wir ihnen sagen, dass
sie selbst
die Saat dieses Krieges, der die Welt in Stücke schlug, ausbrachten? Wie können wir ihnen sagen, dass es ihre eigene Verzweiflung während dieser furchtbaren Zeit war, die fruchtbares Ackerland zu Wüsten werden ließ? Wie können wir ihnen sagen, dass, selbst mit unserer Führung und unserem Eingreifen, die Verbindung zwischen Ephemera und dem menschlichen Herzen nicht zu brechen, und die Welt um sie herum nicht mehr und nicht weniger ist, als das Spiegelbild ihrer selbst?
Wir können es ihnen nicht sagen - denn trotz der Gefahren die es birgt, ist das menschliche Herz unsere einzige Hoffnung, Ephemera eines Tages wiederherzustellen. Auch können wir nicht zulassen, dass die Menschen die Rolle, die sie im fortwährenden Gestalten und Umgestalten dieser Welt spielen, vollkommen verleugnen.
Also lehren wir sie diese Warnung: Reise leichten Herzens. Denn was du mit dir bringst, wird Teil der Landschaft.
 
- Das Verlorene Archiv
Kapitel Zwei
Drei Wochen zuvor
Lukene nahm all ihre Geduld zusammen, als sie einen Stuhl unter dem Schreibtisch hervorzog und sich neben das schmollende Mädchen setzte. Sie war freundlich und verständnisvoll gewesen, als die Beschwerde das erste Mal vorgebracht wurde. Ebenso beim zweiten Mal. Und beim dritten. Aber egal, wie oft sie es auch erklärte, das Mädchen weigerte sich, die Wahrheit zu begreifen.
»Sie werden mich nicht zur Landschafferin der Ersten Stufe aufsteigen lassen, nicht wahr?«, fragte das Mädchen in einem Tonfall, aus dem zum Teil Verzweiflung, mehr aber noch Zorn sprach.
Lukene seufzte. »Nein, Nigelle, werden wir nicht. Die Lehrerschaft hat deine Fähigkeiten sorgfältig überprüft, bevor die Entscheidung fiel, aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht die notwendigen Fertigkeiten entwickelt hast, um aufzusteigen. Und bis du nicht allen Anforderungen entsprichst, wirst du kein Landschafferabzeichen erhalten.«
Nigelle ballte auf dem Tisch die Hand zur Faust. »Ich lerne seit
vier Jahren.
Man muss innerhalb von fünf Jahren Stufe Zwei oder mehr erreichen, um das Studium fortsetzen zu dürfen. Wie soll ich die Anforderungen für zwei Stufen in einem Jahr erfüllen, wenn Sie mich nicht einmal die Erste Stufe erreichen lassen?«
Das kannst du nicht,
dachte Lukene.
Und das ist ein Glück für alle Beteiligten.
»Was ist der Segen des Herzens?«, fragte sie laut.
Die Augen des Mädchens wurden dunkel vor Zorn. »Ist das schon wieder ein Test, Professor Lukene? Obwohl ich keinen Sinn darin sehe, mir eine Frage zu stellen, die jedes Kind beantworten kann.«
Wächter und Wahrer, lass es mich endlich so erklären, dass sie es auch versteht.
»Dann sollte es dir nicht schwerfallen, die Frage zu beantworten«, erwiderte Lukene. »Der Segen des Herzens.«
Nigelle lächelte höhnisch. »Reise leichten Herzens.«
Lukene nickte. »Reise leichten Herzens. Denn was du mit dir bringst, wird Teil der Landschaft. Dies trifft auf jede Person dieser Welt zu. Und es trifft besonders auf uns Landschafferinnen zu, weil wir diejenigen sind, durch die in Ephemera entsteht, was all diese Herzen in sich tragen. Die Resonanz
unserer
Herzen ist das Fundament, durch das die Strömungen von Licht und Dunkel fließen. Sie bewahrt die Menschen vor dem Aufruhr ihrer eigenen Gefühle, während sie trotzdem zulässt, dass die wahren Wünsche des Herzens Wirklichkeit werden. Wir sind das Fundament, Nigelle. Alle anderen und auch Ephemera selbst sind davon abhängig, dass wir das Gleichgewicht zwischen den lichten und den dunklen Seiten in unserem Innern herstellen. Nur so können wir die lichten und dunklen Strömungen lenken, welche die wundervolle und doch schreckliche Macht dieser Welt bedeuten.«
Nigelle fiel ihr ins Wort. »Das weiß ich alles.«
»Hier oben.« Lukene berührte mit dem Finger ihre Schläfe. Dann zeigte sie auf ihre Brust. »Aber nicht hier. Du schleppst zu viel mit dir herum, Nigelle. Du kommst zwar zum Unterricht, aber du gibst dir nur oberflächlich Mühe, auch daran teilzunehmen. Du ärgerst dich oder wirst neidisch, wenn andere Schüler es schaffen, den Anforderungen gerecht zu werden und mit der nächsten Stufe weitermachen können, aber du bist nicht bereit, die gleiche Arbeit zu leisten wie sie, um dieses Ziel zu erreichen. Und trotzdem erwartest du von uns, dass wir dir
Macht über unsere Welt geben. Das können wir nicht tun. Mach die Augen auf, Nigelle.
Sieh dir an,
was du in deinem Garten entstehen lässt. Wenn sich das nicht ändert, wenn
du
dich nicht änderst,
können
wir es nicht zulassen, dass du Macht über Orte erlangst, an denen andere Menschen leben müssen.«
In das Schmollen des Mädchens schlich sich etwas Hinterhältiges und Hässliches.
»Ich kenne den wahren Grund, warum ich nicht aufsteigen darf.«
Lukene seufzte. Warum hatte der »wahre« Grund nie etwas mit den Fähigkeiten des Schülers zu tun?
»Ihr habt Angst vor mir«, stieß Nigelle hervor. »Ihr wisst, dass ich besser bin als ihr. Besser als alle hier. Ich bin wie Belladonna, und ihr könnt den Gedanken nicht ertragen, dass es eine andere Landschafferin gibt, die Dinge tun kann, die ihr euch nicht einmal vorstellen könnt.«
Nicht fähig, das angsterfüllte Zittern, das sie überkam, zu verbergen, schwieg Lukene. Als Lehrer brach man das Gespräch grundsätzlich ab, wenn ein Schüler
diesen
Namen erwähnte.
Das Schweigen hielt eine Weile an, dann stand Nigelle mit einem leisen, gehässigen Lachen auf. »Denken Sie besser daran, wenn Sie das nächste Mal meine Arbeit bewerten.«
Lukene wartete, bis Nigelle den Raum verlassen hatte, bevor sie flüsterte: »Wir werden daran denken. Wir werden mit Sicherheit daran denken.«
Als sie aufstand, musste sie sich mit den Händen auf der Tischplatte abstützen, so sehr zitterten ihre Beine. Sie war noch keine vierzig, aber im Moment fühlte sie sich uralt.
»Ich weiß, dass sie notwendig sind«, hörte sie eine männliche Stimme von der Tür, »aber dreimal im Jahr diese Bewertungen auszusprechen, macht den Lehrern mehr zu schaffen als den Schülern.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie den groß gewachsenen Mann ansah, der im Türrahmen stand. »Gregor.«
Er ging durch den Raum auf sie zu und legte eine warme, starke Hand auf ihre Schulter. Sie gab sich dieser Stärke, dieser Wärme hin und erwiderte die Geste, als er sie in die Arme schloss.
»Hattest du einen harten Tag?«, fragte Gregor und strich ihr mit der Wange über das Haar.
BOOK: Sebastian
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