Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (9 page)

BOOK: Sebastian
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»Es ist so«, sagte William. »Vor ein paar Jahren liefen die Dinge schlecht. Der Hof liegt auf gutem Land, und ich habe hart gearbeitet, aber nie das erreicht, was ich hätte erreichen können. Die Erträge waren schlecht, und ich habe auf dem Markt keine anständigen Preise erzielt. Ich habe angefangen zu trinken und bin böse geworden. Ein Herz aus Stein hatte ich, das könnte man wohl sagen. Meine Nachbarn waren schuld, die Händler, das Land. In meinem Selbstmitleid waren alle schuld, nur ich selbst nicht.
Also hab ich eines Tages den Wagen vollgeladen und bin in die Stadt der Zauberer gefahren. Die Händler dort haben mich, den Bauern vom Land, ausgelacht, und der Preis, den sie für meine Waren boten … Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob ich ihr Angebot angenommen oder die Sachen einfach auf die Straße geworfen hätte.
Es war kurz vor Sonnenuntergang, und ich war auf dem Weg nach Hause, weil ich es mir nicht leisten konnte, die Nacht in der Stadt zu verbringen. Da habe ich dieses Mädchen mitgenommen, das neben der Straße herlief. Erst wollte ich vorbeifahren, aber sie hat eine Hand gehoben und gefragt, ob ich sie bis zur nächsten Brücke mitnehmen könnte. Sie hat gesagt, es wäre ein Akt der Güte.«
William schüttelte den Kopf. »Weiß nicht, warum ich angehalten habe. Ich war ihr nicht wohlgesinnt, nicht ihr und auch keinem anderen. Aber sie habe ich mitgenommen. Sie hat Fragen gestellt, über das Gemüse im Wagen, und ich hab ihr alles erzählt, und es war, als würde eine schwärende Wunde langsam abheilen.
Als ich fertig war, hat sie gesagt: ›Es gibt Menschen in der Stadt, die die Nahrungsmittel in diesem Wagen gut gebrauchen könnten. Die Armen im äußeren Stadtviertel. Die Kinder, die aus irgendeinem Grund verstoßen wurden, die von Verzweiflung leben und nie den süßen Geschmack
der Hoffnung kosten durften. Ein Herz aus Stein kann auch nur Steine ernten. Was du der Welt gibst, kommt zu dir zurück.‹«
»Und ich hab’ gesagt, ›Wer behauptet das?‹, und sie antwortete, ›Ich.‹
›Und wer bist du?‹ Und sie hat gesagt -«
»Belladonna«, flüsterte Sebastian.
William nickte. »Hab nicht gewusst, was der Name bedeutete. Damals noch nicht. Aber nachdem ich sie bei der nächsten Brücke abgesetzt hatte - übrigens fast am selben Ort, an dem ich dich getroffen habe - bin ich zurück in die Stadt gefahren. Dann habe ich meine Waren in einem armen Stadtteil im Außenbezirk für ein paar Pfennige verkauft.
Einige der Jugendlichen konnten nicht einmal einen Pfennig auftreiben, um sich eine Hand voll Obst oder Gemüse zu kaufen.«
Sebastian schluckte trocken. Es hatte Zeiten gegeben, zu denen er eines dieser Kinder gewesen war - Kinder, die sich in den Straßen herumtrieben, so gerissen und gefährlich wie wilde Tiere. Irgendwann war Nadia gekommen und hatte ihn wieder für ein paar Wochen oder Monate mit nach Hause genommen - bis Koltak aufgetaucht war und alles wieder von vorne begonnen hatte. Die Kinder in Aurora, Nadias Heimatdorf, wussten, was er war, und ihre Beschimpfungen und Spötteleien waren bösartiger und grausamer gewesen, als alle Kreaturen, die er im Pfuhl je getroffen hatte. Aber bei Nadia zu wohnen, bedeutete, mit Lee und Glorianna zusammen zu sein. Ihre Liebe und Güte konnte die Grausamkeiten nicht ungeschehen machen, aber ohne ihren Einfluss wäre er zu einem der Inkuben geworden, die alle fürchteten - Dämonen, die Menschen lediglich als Beute betrachteten.
»Also hab ich ihnen gesagt, sie könnten das Essen haben, wenn sie jemand anderem etwas Gutes tun«, fuhr William fort.
Als der Bauer nichts hinzufügte, hakte Sebastian nach. »Was ist dann passiert?«
»Die Dinge haben sich verändert«, sagte William leise. »Nicht sofort. So läuft es nicht. Aber ich habe zur Erntezeit jede Woche einen Wagen voll Obst und Gemüse in diesen Teil der Stadt gefahren. Und die Dinge haben angefangen, sich zu ändern. Die Kinder, die für das Essen, das ich ihnen gegeben habe, mit einer guten Tat bezahlt haben, halfen alten Ladenbesitzern, indem sie den Gehweg fegten oder die Läden saubermachten. Einige begannen, den Kaufmannsberuf zu erlernen und bekamen einen Schlafplatz in den hinteren Räumen und etwas zu Essen als Bezahlung.
Für mich haben sich die Dinge auch verändert. Das Land wurde fruchtbarer. Auf dem Markt im Dorf habe ich einen höheren Preis für meine Waren bekommen, und es ging mir immer besser. Eines Tages traf ich auf dem Markt ein nettes Mädchen, das nicht zu stolz war, die Frau eines Bauern zu werden. Heute haben wir zwei Kinder, und ich kann mein Glück kaum fassen.« Er hielt inne und räusperte sich, als hätten ihm die Erinnerungen für einen Moment die Kehle zugeschnürt.
»Es ist immer noch ein armer Stadtteil, aber es ist jetzt anders dort. Unruhestifter fühlen sich nicht wohl und bleiben nie lange. Die Menschen kümmern sich nicht mehr nur um sich selbst und helfen ihren Nachbarn. Und ich bringe immer noch jede Woche einen Wagen voll Obst und Gemüse dorthin, sobald die Erntezeit beginnt.«
»Hast du sie jemals wiedergesehen?«, fragte Sebastian.
William nickte. »Vor ein paar Jahren. Ich hatte gerade meinen letzten Scheffel Äpfel verkauft, und diese Frau hielt mir einen Pfennig entgegen und lächelte mich an. Zu dieser Zeit wusste ich bereits, wer sie war, was sie war, wie
gefährlich
sie war. Aber ich sag dir, es ist mir egal, was die anderen von ihr halten. An dem Tag, an dem ich sie mitgenommen habe, hat sie mir die Möglichkeit
gegeben, mein Leben zu ändern, und es ist nichts als Gutes dabei herausgekommen.« Er hob eine Hand und zeigte nach vorn. »Da ist das Südtor der Stadt. Ich muss in die andere Richtung, wenn wir dort hindurch sind. Kommst du von da aus alleine klar?«
»Ich kenne den Weg zur Halle der Zauberer«, antwortete Sebastian.
Das Land um sie herum war nicht gerade flach, aber der Hügel, auf dem die Stadt der Zauberer errichtet worden war, beherrschte die Landschaft, als hätte ein gewaltiges Wesen, das unter der Oberfläche schwamm, plötzlich einen Buckel gemacht. Nein, eher als hätte ein riesiger Hund in der Aufforderung zum Spiel den Rücken gestreckt, die Vorderpfoten nach vorne gedrückt und dabei die Erde zusammengeschoben. Auf der einen Seite fiel der Hügel sanft ab und bot genügend Halt, um Häuser und Straßen zu bauen, die sich zu dem Plateau hinauf zogen, von dem aus die Halle der Zauberer und der Turm auf den Rest der Stadt herabschauten. Auf der anderen Seite war der Abhang zu steil, um etwas anderes zuzulassen als Weidegründe für Schafe und Ziegen.
Sie fuhren durch das südliche Tor in der hohen Steinmauer, die den Hügel umgab. William hielt die Pferde gerade lange genug an, um Sebastian absteigen zu lassen.
»Reise leichten Herzens«, sagte William.
Sebastian nickte. »Vielen Dank für die Freundlichkeit.« Er sah dem Wagen nach, bis dieser hinter einer Biegung verschwand. Dann ging er in die entgegengesetzte Richtung auf einen Platz zu, der so alt war wie die Stadt selbst.
Einst war dieser Platz ein Ort der Meditation gewesen, ein Ort, an dem man sein Herz zur Ruhe kommen lassen konnte, bevor man die Tausend Stufen zur Gerechtigkeit erklomm. Heute war er von den Kasernen der Wachen umgeben, die in den unteren Ebenen der Stadt mit harter Hand für Ordnung sorgten. Sebastian bezweifelte, dass
irgendjemand, der sich auf diesem altem Platz mit seinen sterbenden Bäumen und von Unkraut überwucherten Blumenbeeten aufhielt, zur Ruhe kommen konnte.
Er wusste nicht, ob es wirklich einmal tausend Stufen gewesen waren, oder ob jemand sie bloß so genannt hatte, weil es beeindruckend klang. Heute waren es sicher keine tausend mehr, weil einige Teile der Treppe den Straßen, die seitdem angelegt worden waren, hatten weichen müssen. Aber es war noch immer ein Aufstieg, der die Stärke der Beine eines Mannes einer Prüfung unterzog - ebenso wie seine Entschlossenheit, den Gipfel zu erreichen.
Und es war noch immer der schnellste Weg auf das Plateau hinauf, auf dem die Zauberer, die Rechtsbringer, herrschten.
Er hörte die Glocke neun Mal läuten, als er den Platz betrat. Die Wachen, die an den Hauswänden gelehnt hatten, richteten sich auf, als sie ihn sahen. Er beachtete sie nicht, sondern legte einen Riemen seines Bündels über die Schulter und ging zum Ende des Platzes, als ob es sein gutes Recht wäre, hier zu sein.
Das war es auch. Jeder konnte die Zauberer um Hilfe bitten. Natürlich war das Recht, danach zu fragen, nicht gleichbedeutend damit, dass man auch welche bekam.
Im selben Moment, in dem sein Fuß die erste Stufe berührte, verloren die Wachen das Interesse an ihm. Angeblich hatte die Magie der Zauberer diese Stufen geschaffen und ihre Macht wohnte ihnen noch heute inne. Man erzählte sich, dass die Audienz nichts als eine Formalität sei, dass die Zauberer bereits alles Notwendige über den Bittsteller wussten, wenn dieser die letzte Stufe erklomm.
Er glaubte nicht daran. Aber trotzdem versuchte er während des Aufstiegs jeden Gedanken aus seinem Geist zu verbannen und sich nur auf seinen nächsten Schritt zu konzentrieren. Er wollte sich nicht an die Zeiten erinnern,
die er hier verbracht hatte - oder an das erste und einzige Mal, dass er die Halle der Zauberer gesehen hatte.
Aber seine Muskeln verkrampften sich, sein Herz schlug schneller, und die Verzweiflung und die bittere Wut, die einen so großen Teil seiner Kindheit bestimmt hatten, lasteten auf seinen Schultern wie ein schwerer Stein, den man ihm mit Ketten, geschmiedet aus grausamen Worten, um den Hals gelegt hatte.
Er war diese Treppe schon einmal hinaufgestiegen.
Wie alt war er gewesen? Fünf? Vielleicht sechs? Er hatte sich am Rand der Straße, in der er wohnte, herumgetrieben, um der Frau zu entkommen, die sich damals um ihn kümmerte, und um den drei Mädchen zuzusehen, die dort mit einem bunten Ball spielten. Er beobachtete sie, trank ihr Glück und ihr Lachen, obwohl er sich damals seiner Natur nicht bewusst gewesen war und ihm nicht klar war, warum ihre Gefühle ihn so zufrieden machten, wie kühles Wasser, wenn man zu lange durstig gewesen ist.
Ein Mädchen verpasste einen Wurf, und der Ball rollte auf ihn zu. Er hob ihn auf, und als er die Mädchen ansah, spürte er, wie sich ihre Freude in Vorsicht verwandelte. Er wusste, was andere Jungen getan hätten - den Ball behalten, weil er ein hübsches Spielzeug war, und so etwas fand man selten in diesem Teil der Stadt, oder ihn hart auf eines der Mädchen geworfen, um ihr Angst einzujagen, oder ihr so weh zu tun, dass sie anfing zu weinen. Aber er wollte die Mädchen wieder lachen hören, also warf er den Ball vorsichtig zu einer von ihnen zurück. Sie sahen ihn einen Moment lang an und wandten sich dann wieder ihrem Spiel zu. Aber als das Mädchen an der Reihe war, das den Ball zuvor verpasst hatte, winkte sie ihn näher heran und warf ihm den Ball zu. Und das Dreieck wurde zu einem Viereck, in dem vier Kinder miteinander Ball spielten und lachten.
Dann stürzte die Frau aus dem Haus und zerrte ihn in die engen, stickigen Räume, die sein Zuhause waren.
Sie schrie ihn an, rief etwas über den Dämon in ihm und seine bösartige Natur, auf die er achten solle. Dann schlug sie ihn, und ihre kräftige Hand traf sein Gesicht mit solcher Wucht, dass er auf den Boden fiel.
Aber er rappelte sich auf, tauchte unter ihren Händen hindurch … und rannte, bis er am Platz vor den Tausend Stufen zur Gerechtigkeit ankam.
Ein paar der anderen Frauen, die sich um ihn gekümmert hatten, waren ein wenig freundlicher gewesen. Sie hatten ihm erzählt, sein Vater sei ein wichtiger Mann, ein Zauberer. Aber Kindern war es nicht erlaubt, in der Halle der Zauberer zu leben, und deswegen musste er bei ihnen wohnen. Er hatte ihnen geglaubt und ihre Erklärung nie in Frage gestellt.
Er flog geradezu die Treppe hinauf, und die Wut gab seinen Beinen Kraft. Er hatte seinen Vater nicht oft gesehen, und die Gefühle, die von ihm ausgingen, waren ihm unangenehm, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sein Vater war ein Zauberer. Und sein Vater würde ihn an einen anderen Ort bringen, wenn er erfuhr, wie gemein die Frau gewesen war.
Ja, so würde es sein. Er würde in einem schönen Haus leben, bei einer
netten
Frau, die ihn nicht ständig anschrie, schlechte Dinge über ihn sagte oder ihn schlug. Und vielleicht wären da auch Kinder, mit denen er spielen könnte. Kinder, die ihn mochten und die ihn nicht beschimpften.
Der Wunsch nach dieser netten Frau und diesen Kindern wurde so stark, dass er sogar die Wut erstickte. Hoffnung erfüllte ihn, als er die Stufen hinauf rannte.
Als er endlich oben ankam und den Weg entlanglief, der zur Straße und den hohen Steinmauern dahinter führte, schlang sich eine Ranke des Zweifels um die Hoffnung und versuchte, sie zu ersticken.
Wie sollte er denn hineinkommen und seinen Vater finden? Was, wenn er die Halle der Bittsteller betrat, nach Koltak fragte und die anderen Zauberer ihn einfach fortschickten? Er
musste
einen Weg hinein finden!
Dann bot ihm das Glück oder das Schicksal oder einfach die Natur Ephemeras die Gelegenheit. Ein Mann trat aus einem schmiedeeisernen Tor neben der Halle der Bittsteller und gab der Pforte beim Hinausgehen nur einen nachlässigen Stoß. Das Tor blieb eine Handbreit offen stehen.
Er rannte über die Straße und öffnete die Flügel gerade weit genug, um hindurchzuschlüpfen. Eine andere Welt bot sich ihm dar, mit mehr Bäumen und Büschen, als er jemals zuvor gesehen hatte. Für einen Moment vergaß er seinen Vater und lief einfach nur einen der Wege entlang. Es war so
sauber
hier. Es roch nicht nach Müll oder saurem Schweiß.
Dann hörte er Gelächter, drehte sich um und machte die eine Entdeckung, die sein Leben veränderte.
Jungen, nicht viel älter als er, rannten über einen Weg auf die Gebäude zu, die am anderen Ende des Gartens lagen. Jungen, die offenbar in der Halle der Zauberer lebten.
Er verließ den Weg und kauerte sich hinter einem Busch zusammen, um nicht entdeckt zu werden. Leise weinte er, während all die grausamen Worte, die er all die Jahre hatte ertragen müssen, tief in seinem Herzen Wurzeln schlugen.
Als er Schritte auf dem Weg hörte, machte er sich noch kleiner. Aber die Schritte brachen abrupt ab, jemand verließ den Weg und ging um den Busch herum - und er erkannte eine Frau mit dunklem Haar und ebenso dunklen, zornigen Augen.
Er wich zurück vor dem Zorn, den sie verströmte, aber als sie sich niederkniete, war ihre Stimme sanft.
BOOK: Sebastian
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