Ich fühlte mich wohl unter der Tischplatte, im Windschatten des herabhängenden Tischtuches.
Leichthin trommelnd begegnete ich den über mir Karten dreschenden Fäusten, ordnete mich dem Verlauf der Spiele unter und meldete mir nach einer knappen Stunde Skat: Jan Bronski verlor. Er hatte gute Karten, verlor aber trotzdem. Kein Wunder, da er nicht aufpaßte. Hatte ganz andere Dinge im Kopf als seinen Karo ohne Zweien. Hatte sich gleich zu Anfang des Spiels, noch mit seiner Tante redend, die kleine Orgie von vorher banalisierend, den schwarzen Halbschuh vom linken Fuß gestreift und mit graubesocktem linken Fuß am meinem Kopf vorbei das Knie meiner Mama, die ihm gegenüber saß, gesucht und auch gefunden. Kaum berührt, rückte Mama näher an den Tisch heran, so daß Jan, der gerade von Matzerath gereizt wurde und bei dreiunddreißig paßte, den Saum ihres Kleides lüpfend erst mit der Fußspitze, dann mit dem ganzen gefüllten Socken, der allerdings vom selben Tage und beinah frisch war, zwischen ihren Schenkeln wandern konnte. Alle Bewunderung für meine Mama, die trotz dieser wollenen Belästigung unter der Tischplatte oben auf strammem Tischtuch die gewagtesten Spiele, darunter einen Kreuz ohne Viern, sicher und von humorigster Rede begleitet, gewann, während Jan mehrere Spiele, die selbst Oskar mit schlafwandlerischer Sicherheit nach Hause gebracht hätte, unten immer forscher werdend, oben verlor.
Später kroch noch das müde Stephanchen unter den Tisch, schlief dort bald ein und begriff vorm Einschlafen nicht, was seines Vaters Hosenbein unterm Kleid meiner Mama suchte.
Heiter bis wolkig. Leichte Schauer am Nachmittag. Am nächsten Tag schon kam Jan Bronski, holte sein für mich bestimmtes Geburtstagsgeschenk, das Segelschiff ab, tauschte das dürftige Spielzeug beim Sigismund Markus in der Zeughauspassage gegen eine Blechtrommel ein, kam leicht verregnet am späten Nachmittag mit jener mir so vertraut weißrot geflammten Trommel zu uns, hielt sie mir hin, faßte gleichzeitig das gute alte Blechwrack, dem nur Fragmente weißroten Lackes geblieben waren.
Und während Jan das müde Blech, ich das frische faßten, blieben Jans, Mamas, Matzeraths Augen auf Oskar gerichtet — fast mußte ich lächeln — ja dachten die denn, ich klebte am Althergebrachten, nährte Prinzipien in meiner Brust?
Ohne den von allen erwarteten Schrei, ohne den glastötenden Gesang laut werden zu lassen, gab ich die Schrotttrommel ab und widmete mich sogleich mit beiden Händen dem neuen Instrument. Nach zwei Stunden aufmerksamster Trommelei hatte ich mich eingespielt.
Doch nicht alle Erwachsenen meiner Umgebung zeigten sich so einsichtig wie Jan Bronski. Kurz nach meinem fünften Geburtstag im Jahre neunundzwanzig — man erzählte sich damals viel von einem New Yorker Börsenkrach, und ich überlegte, ob auch mein mit Holz handelnder Großvater Koljaiczek im fernen Buffalo Verluste zu erleiden hatte — begann Mama, durch mein nun nicht mehr zu übersehendes, ausbleibendes Wachstum beunruhigt, mich bei der Hand nehmend, mit den Mittwochbesuchen in der Praxis des Dr. Hollatz im Brunshöferweg. Ich ließ mir die überaus lästigen und endlos währenden Untersuchungen gefallen, weil mir die weiße, dem Auge wohltuende Schwesterntracht der Schwester Inge, die dem Hollatz helfend zur Seite stand, schon damals gefiel, an Mamas im Foto festgehaltene Krankenschwesternzeit während des Krieges erinnerte, und es mir durch intensive Beschäftigung mit dem immer neuen Faltenwurf der Pflegerinnentracht gelang, den röhrenden, betont kraftvollen, dann wieder unangenehm onkelhaften Wortschwall des Arztes zu überhören.
Mit den Brillengläsern das Inventar der Praxis spiegelnd — es gab da viel Chrom, Nickel und Schleiflack; dazu Regale, Vitrinen, in denen sauber beschriftete Gläser mit Schlangen, Molchen, Kröten, Schweine-, Menschen-und Affenembryonen standen — diese Früchte im Spiritus mit dem Brillenglas einfangend, schüttelte Hollatz nach den Untersuchungen bedenklich und in meiner Krankengeschichte blätternd den Kopf, ließ sich immer wieder von Mama meinen Sturz von der Kellertreppe erzählen und beruhigte sie, wenn sie Matzerath, der die Falltür offen gelassen hatte, hemmungslos beschimpfte und für alle Zeiten schuldig sprach.
Als er mir nach Monaten anläßlich eines Mittwochbesuches, wahrscheinlich um sich, vielleicht auch der Schwester Inge den Erfolg seiner bisherigen Behandlung zu beweisen, meine Trommel nehmen wollte, zerstörte ich ihm den größten Teil seiner Schlangen-und Krötensammlung, auch alles was er an Embryonen verschiedenster Herkunft zusammengetragen hatte.
Von gefüllten, aber nicht abgedeckten Biergläsern abgesehen und Mamas Parfümflakons ausgenommen, war es das erste Mal, daß Oskar sich an einer Menge gefüllter und peinlich verschlossener Gläser versuchte. Der Erfolg war einzigartig und für alle Beteiligten, selbst für Mama, die ja mein Verhältnis zum Glas kannte, überwältigend, überraschend. Gleich mit dem ersten noch sparsam beschnittenen Ton schnitt ich die Vitrine, in der Hollatz all seine ekelhaften Merkwürdigkeiten verwahrte, der Länge und Breite nach auf, ließ sodann eine nahezu quadratische Scheibe aus der Ansichtsseite der Vitrine vornüber klappen und auf den Linoleumfußboden fallen, wo sie platt auf dem Boden, die quadratische Form bewahrend, tausendmal zersprang, gab dann dem Schrei etwas mehr Profil und eine geradezu verschwenderische Dringlichkeit, besuchte mit diesem so reich ausgerüsteten Ton ein Reagenzglas nach dem anderen.
Die Gläser sprangen knallend. Der grünliche, teilweise eingedickte Alkohol spritzte, floß, seine präparierten, blassen, etwas vergrämt dreinschauenden Einschlüsse mit sich führend über den roten Linoleumboden der Praxis und füllte mit, möchte sagen, greifbarem Geruch den Raum dergestalt, daß Mama übel wurde und Schwester Inge die Fenster zum Brunshöferweg hin öffnen mußte. Dr. Hollatz verstand es, den Verlust seiner Sammlung in einen Erfolg umzubiegen. Wenige Wochen nach meinem Attentat erschien von seiner Hand in der Fachzeitschrift »Arzt und Welt« ein Aufsatz über mich, das glaszersingende Stimmphänomen Oskar M. Die dort auf über zwanzig Seiten vertretene These des Dr. Hollatz soll in Fachkreisen des In- und Auslandes Aufsehen erregt, Widerspruch, aber auch Zuspruch aus berufenem Munde gefunden haben. Mama, der mehrere Exemplare der Zeitschrift zugeschickt wurden, war auf eine mich nachdenklich stimmende Art über den Aufsatz stolz und konnte es nicht lassen, den Greffs, Schefflers, ihrem Jan und immer wieder nach Tisch ihrem Gatten Matzerath daraus vorzulesen. Selbst die Kunden des Kolonialwarengeschäftes mußten sich Lesungen aus dem Artikel gefallen lassen und bewunderten auch Mama, die die Fachausdrücke zwar falsch, aber phantasievoll betonte, nach Gebühr. Mir selbst sagte die Tatsache, daß da mein Vorname zum erstenmal in einer Zeitung Platz fand, so viel wie gar nichts. Meine schon damals hellwache Skepsis ließ mich das Werkchen des Dr. Hollatz als das werten, was es, genau besehen, darstellte: als das seitenlange, nicht ungeschickt formulierte Vorbeireden eines Arztes, der auf einen Lehrstuhl spekulierte.
Heute, in seiner Heil-und Pflegeanstalt, da seine Stimme nicht mal sein Zahnputzglas zu rühren vermag, da ähnliche Ärzte wie jener Hollatz bei ihm ein und aus gehen, sogenannte Rorschachversuche, Assoziationsversuche und sonstige Tests mit ihm anstellen, damit seine Zwangseinweisung endlich einen klingenden Vornamen bekommt, heute denkt Oskar gerne an die archaische Frühzeit seiner Stimme zurück. Wenn er in jener ersten Periode nur notfalls, dann allerdings gründlich Quarzsandprodukte zersang, machte er später, während der Blüte-und Verfallszeit seiner Kunst, Gebrauch von seinen Fähigkeiten, ohne äußeren Zwang zu verspüren. Aus bloßem Spieltrieb, dem Manierismus einer Spätepoche verfallend, dem
l'art pour l'art
ergeben, sang Oskar sich dem Glas ins Gefüge und wurde älter dabei.
Klepp schlägt zeitweise Stunden mit dem Entwerfen von Stundenplänen tot. Daß er während des Entwerfens ständig Blutwurst und angewärmte Linsen in sich hineinschlingt, bestätigt meine These, die schlankweg behauptet: Träumer sind Fresser. Daß Klepp beim Ausfüllen der Rubriken nicht ohne Fleiß ist, gibt meiner anderen These recht: Nur wahre Faulpelze können arbeitsparende Erfindungen machen.
Auch in diesem Jahr gab sich Klepp über vierzehn Tage lang Mühe, seinen Tag in Stunden zu planen.
Als er mich gestern besuchte, tat er erst längere Zeit geheimnisvoll, fischte dann das neunmal gefaltete Papier aus der Brusttasche, reichte es mir strahlend, schon selbstgefällig; er hatte wieder einmal eine arbeitsparende Erfindung gemacht.
Ich überflog den Zettel, viel Neues brachte er nicht: Um zehn Frühstück, bis zum Mittagessen Nachdenken, nach dem Essen ein Stündchen Schlaf, dann Kaffee — wenn möglich ans Bett, im Bett sitzend eine Stunde Flöte, aufstehend und umhermarschierend eine Stunde Dudelsack im Zimmer, eine halbe Stunde Dudelsack im Freien auf dem Hof, jeden zweiten Tag wechselnd, entweder zwei Stunden Bier und Blutwurst oder zwei Stunden Kino, in jedem Fall aber vor dem Kino oder beim Bier unauffälliges Werben für die illegale KPD — halbe Stunde — nicht übertreiben! Die Abende füllte an drei Wochentagen Tanzmusik-Machen im »Einhorn« aus, am Sonnabend wurde das Nachmittagsbier mit KPD-Werbung auf den Abend verlegt, weil der Nachmittag für das Bad mit Massage in der Grünstraße reserviert war; und danach ins »U 9«, ein Dreiviertelstündchen lang Hygiene mit Mädchen, dann mit demselben Mädchen und Freundin des Mädchens bei Schwab Kaffee und Kuchen, noch kurz vor Geschäftsschluß Rasieren, wenn nötig Haareschneiden, schnell Foto machen lassen bei Fotomaton, dann Bier, Blutwurst, KPD-Werbung und Behaglichkeit.
Ich lobte Klepps säuberlich hingemaltes Maßwerk, bat ihn um eine Abschrift, wollte wissen, wie er gelegentliche tote Punkte überwinde. »Schlafen oder an KPD denken«, gab mir Klepp nach kürzestem Sinnen zur Antwort.
Ob ich ihm erzählte, wie Oskar Bekanntschaft mit seinem ersten Stundenplan machte?
Es begann harmlos mit Tante Kauers Kindergarten. Hedwig Bronski holte mich jeden Morgen ab, brachte mich mit ihrem Stephan zur Tante Kauer in den Posadowskiweg, wo wir mit sechs bis zehn Gören — einige waren immer krank — bis zum Erbrechen spielen mußten. Zum Glück galt meine Trommel als Spielzeug, und es wurden mir keine Bauklötze aufgezwungen und Schaukelpferde nur dann untergeschoben, wenn man einen trommelnden Reiter mit Papierhelm brauchte. Als Trommelvorlage diente mir Tante Kauers schwarzseidenes, tausendmal geknöpftes Kleid. Getrost kann ich sagen, es gelang mir auf meinem Blech, das dünne, nur aus Fältchen bestehende Fräulein mehrmals am Tage an-und auszuziehen, indem ich sie trommelnd auf-und zuknöpfte, ohne eigentlich ihren Körper zu meinen.
Die Spaziergänge am Nachmittag durch Kastanienalleen zum Jeschkentaler Wald, den Erbsberg hoch, am Gutenbergdenkmal vorbei, waren so angenehm langweilig und unbeschwert albern, daß ich mir heute noch Bilderbuchspaziergänge an Tante Kauers Papierhand wünsche.
Ob wir acht oder zwölf Gören waren, wir mußten ins Geschirr. Dieses Geschirr bestand aus einer hellblauen, gestrickten, eine Deichsel meinenden Leine. Sechsmal ergab sich links und rechts dieser Wolldeichsel wollenes Zaumzeug für insgesamt zwölf Gören. Alle zehn Zentimeter hing eine Schelle.
Vor Tante Kauer, die die Zügel führte, trotteten wir klingelingeling machend, plappernd, ich zähflüssig trommelnd, durch herbstliche Vorortstraßen. Dann und wann stimmte Kauer »Jesus dir leb' ich, Jesus dir sterb' ich« an oder auch, »Meerstern ich dich grüße«, was die Straßenpassanten rührte, wenn wir »Oh Maria hilf« und »Gottesmutter, suhühühüße« der klaren Oktoberluft anvertrauten.
Sobald wir die Hauptstraße überquerten, mußte der Verkehr aufgehalten werden. Straßenbahnen, Autos, Pferdefuhrwerke stauten sich, wenn wir den Meerstern über den Fahrdamm hinübersangen.
Jedesmal bedankte sich dann Tante Kauer mit knisternder Hand bei dem uns das Geleit gebenden Verkehrspolizisten.
»Unser Herr Jesus wird Ihnen den Lohn geben«, versprach sie und raschelte mit dem Seidenkleid.
Eigentlich, habe ich es bedauert, als Oskar im Frühjahr, nach seinem sechsten Geburtstag, Stephans wegen und mit ihm zusammen das auf-und zuknöpfbare Fräulein Kauer verlassen mußte. Wie immer, wenn Politik im Spiele ist, kam es zu Gewalttätigkeiten. Wir waren auf dem Erbsberg, Tante Kauer nahm uns das Wollgeschirr ab, das Jungholz glänzte, in den Zweigen begann es sich zu mausern.
Tante Kauer saß auf einem Wegstein, der unter wucherndem Moos verschiedene Richtungen für einbis zweistündige Spaziergänge angab. Gleich einem Mädchen, das nicht weiß, wie ihm im Frühling ist, trällerte sie mit ruckhaften Kopfbewegungen, die man sonst nur noch bei Perlhühnern beobachten kann, und strickte uns ein neues Geschirr, verteufelt rot sollte es werden, leider durfte ich es nie tragen: denn da gab es Geschrei im Gebüsch, Fräulein Kauer flatterte auf, stöckelte mit Gestricktem, roten Wollfaden nach sich ziehend, dem Geschrei und Gebüsch zu. Ich folgte ihr und dem Faden, sollte sogleich noch mehr Rot sehen: Stephans Nase blutete heftig und einer, der Lothar hieß, gelockt war und blaue Äderchen an den Schläfen zeigte, hockte dem windigen und so wehleidigen Kerlchen auf der Brust und tat, als wollte er dem Stephan die Nase nach innen schlagen.
»Pollack«, zischte er zwischen Schlag und Schlag. »Pollack!« Als Tante Kauer uns fünf Minuten später wieder im hellblauen Geschirr hatte — nur ich lief frei und wickelte den roten Faden auf —, sprach sie uns allen ein Gebet vor, das man normalerweise zwischen Opfer und Wandlung hersagt:
»Beschämt, voll Reue und Schmerz ...«
Dann den Erbsberg hinunter und vor dem Gutenbergdenkmal Halt. Auf Stephan, der sich wimmernd ein Taschentuch gegen die Nase drückte, mit langem Finger weisend, gab sie mild zu verstehen: »Er kann doch nicht dafür, daß er ein kleiner Pole ist.«
Stephan durfte auf Anraten Tante Kauers nicht mehr in ihren Kindergarten. Oskar, obgleich kein Pole und den Stephan nicht besonders schätzend, erklärte sich mit ihm solidarisch. Und dann kam Ostern, und man versuchte es einfach. Dr. Hollatz befand hinter seiner mit breitem Horn eingefaßten Brille, es könne nicht schaden, ließ den Befund auch laut werden: »Es kann dem kleinen Oskar nicht schaden.«
Jan Bronski, der seinen Stephan gleichfalls nach Ostern in die polnische Volksschule schicken wollte, ließ sich davon nicht abraten, wiederholte meiner Mama und Matzerath immer wieder: Er sei Beamter in polnischen Diensten. Für korrekte Arbeit auf der polnischen Post bezahle der polnische Staat ihn korrekt. Schließlich sei er Pole und Hedwig werde es auch, sobald der Antrag genehmigt. Zudem lerne ein aufgewecktes und überdurchschnittlich begabtes Kind wie Stephan die deutsche Sprache im Elternhaus, und was den kleinen Oskar betreffe — immer wenn er Oskar sagte, seufzte er ein bißchen — Oskar sei genau wie der Stephan sechs Jahre alt, könne zwar noch nicht recht sprechen, sei überhaupt reichlich zurück für sein Alter,und was das Wachstum angehe, versuchen solle man es trotzdem, Schulpflicht sei Schulpflicht — vorausgesetzt, daß die Schulbehörde sich nicht dagegenstelle.