Polar City Blues (11 page)

Read Polar City Blues Online

Authors: Katharine Kerr

BOOK: Polar City Blues
2.03Mb size Format: txt, pdf, ePub

93

Lange sitzt Bates an seinem Schreibtisch und starrt aus dem Fenster; er überdenkt alles noch einmal, versucht, jenes entscheidende Detail zu finden, jenen entscheidenden Schritt zu tun, der ihm noch nicht gelingt. Doch er spürt, wie es in ihm arbeitet.

Er beschließt, es sein zu lassen und erst einmal essen zu gehen, als das Intercom summt. Er schaltet ein.

»Bates.«

»Hallo, Bates.« Es ist Akeli von der Staatspolizei. »Haben Sir irgend etwas herausgefunden, das von Interesse ist?«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie mein Vorgesetzter sind.«

Akelis fettes Gesicht grinst vom Bildschirm.

»Meine offizielle Funktion ist natürlich nur die eines Verbindungsmannes zwischen Ihnen und dem Präsidialbüro.«

Er muß es ihm auch noch unter die Nase reiben, dieser Bastard.
Laut sagt Bates: »Nun, Sie werden der Präsidentin sagen müssen, daß wir hier nichts Neues haben. Und Sie? Wie sieht's aus mit der Botschaft der Allianz und dem Kontaktmann von Ka Gren?«

»Das, was ich habe, eignet sich nicht für eine Übermittlung auf diesem Weg. Wenn Sie vielleicht in meinem Büro vorbeischauen, so gegen acht heute abend? Adios.«

Er schaltet ab, bevor Bates noch etwas sagen kann. Ein paar Minuten bleibt der Polizeichef an seinem Computertisch sitzen und grübelt voller Groll über die gleich mehrfachen Beleidigungen in diesem kurzen Wortwechsel nach, besonders die infame Unterstellung, daß alle Informationen, die er zu bieten hat, ohne weiteres über das normale Telefonnetz gehen könnten, während Akelis unglaubliche Resultate unter vier Augen ausgetauscht werden müssen. Aber er zwingt sich, ruhig zu bleiben, und so gelingt es ihm dann tatsächlich, aus seinem Büro zu gehen, ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen.

Mitten am Tag ist das Hauptquartier wie ausgestorben. Die Cafeteria ist zwar geöffnet, aber man bekommt nichts als Synkaffee, muffige alte Sandwichs und Sojagulasch, das 94

von der Hauptmahlzeit um Mitternacht übriggeblieben ist. Bates nimmt sich ein paar Brote mit Eipaste und einen großen Kaffee und setzt sich an einen Tisch neben dem Eingang. Während er ißt, schaut er dem Angestellten zu, der mit einem feuchten Lappen die Robotkellner abwischt; so, wie der Lappen aussieht, hat man den Eindruck, daß es hygienischer wäre, wenn er sie
nicht
abwischen würde. Bates hat gerade das erste Brot gegessen, als er spürt, daß jemand ihn beobachtet. Er schwingt sich herum auf seinem Stuhl und sieht eine junge Frau am Eingang stehen, schlank und hübsch, mit bronzefarbener Haut und rabenschwarzem Haar, das zu dünnen Zöpfchen geflochten ist. Sie kommt ihm auch irgendwie bekannt vor.

»Chief? Ich wollte sie nicht stören, aber ich mache mir so große Sorgen, und sonst habe ich hier niemanden getroffen.«

Die weiche Stimme hilft seinem Gedächtnis auf die Sprünge: Cindy, die Verlobte von Corporal Ward; er hat sie letzten Winter bei dem jährlichen Picknick zum Unabhängigkeitstag kennengelernt.

»Nur keine Umstände! Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Ich kann Bastian nirgends finden. Er hatte doch sein Examen heute, er wollte nach Hause gehen und sich umziehen und mich danach anrufen. Wissen Sie, wir kennen uns seit zwei Jahren, und er hat noch nie vergessen, mich anzurufen, wenn er es mir versprochen hatte. Deshalb habe ich gedacht, daß die Prüfung vielleicht länger gedauert hat, und bin hierhergekommen, um ihn abzuholen. Die Prüfung war aber vor vier Stunden zu Ende.«

Das Sandwich, das Bates gegessen hat, scheint sich in einen Stein zu verwandeln. Er stößt den Teller von sich und springt aus.

»Kommen Sie mit. Wir geben eine Meldung an alle Streifen und Reviere durch, dann sehen wir in seiner Wohnung nach. Könnte es zufällig sein, daß sein Türschloß auch auf Ihre Hand reagiert?«

95

Ihr Gesicht ist grau geworden. »Sicher tut es das.« Doch sie müssen feststellen, daß Ward nie zu Hause angekommen ist. Ein Streifenpolizist hat ihn gefunden, in einer Gasse zehn Straßen vom Hauptquartier entfernt. Man hat ihn unter einen Schuttcontainer geschoben, seine Kehle ist durchschnitten worden. Während die Leiche abtransportiert wird, steht Bates in der blendenden Sonne und schwört Rache. Im Polizeigleiter weint Cindy leise vor sich hin.

Als Carol sie endlich am späten Nachmittag bei A-bis-Z-Unternehmungen abgesetzt hat, ist Mulligan so müde, daß er Lacey kaum folgen kann, als sie ihm in den kühlen, schattigen Garten vorausgeht. Sie wird ihn wohl den ganzen Tag da schlafen lassen müssen, denkt sie, aber letzten Endes ist sie ja diejenige, für die er sich so verausgabt hat. Das mindeste, was sie ihm schuldet, ist ein Plätzchen zum Ausruhen. Zwar hat er nichts davon gesagt, aber langsam kommt ihr der Verdacht, daß sein Vermieter ihn wieder einmal rausgeworfen hat. Mit Nunks' Hilfe schafft sie ihn die Treppe hoch und aufs Sofa.

Dann gießt sie sich ein Glas ein, während Nunks unruhig an der Tür hin- und hergeht.

»Du willst mich etwas fragen?«

Er nickt, aber seine riesigen Hände winken traurig ab.

»Es ist kompliziert, und wir müssen warten, bis Mulligan wieder aufwacht?«

Wieder ein Nicken.

»Aber es ist so dringend, daß es keinen Aufschub duldet!«

Genau. Sie hätte es wissen müssen. Zwar ist sie versucht, Mulligan wachzurütteln, doch ein Blick auf sein totenblasses Gesicht hält sie davon ab. Er schnarcht schon und hat sich wieder um ein Kissen gerollt, wie er das immer tut, auch wenn es noch so schrecklich unbequem scheint. Lacey gähnt, auch sie ist müde nach einem Tag ohne Schlaf.

»Gut, ich sag' dir Bescheid, wenn er aufwacht. Oder willst 96

du hier bei mir warten? Vielleicht gibt es im Fernsehen irgendein Ballspiel.«

Nunks schüttelt seinen riesigen Kopf und stapft aus dem Zimmer. So laut hallen seine Schritte auf der Treppe, daß Lacey klar wird, daß es kein unbedeutendes Problem ist, was ihn beschäftigt. Sie nimmt einen Schluck und geht hinüber zum Computertisch, wo sie sehen muß, daß Buddys Signalleuchte heftig blinkt. Mit einem Seufzer der Erleichterung setzt sie sich in den Sessel. Das ist endlich etwas anderes, als in Carols Transporter zu sitzen. Dann drückt sie einige Tasten.

»Ich freue mich sehr, daß du zurück bist, Programmiererin. Es ist einiges an neuen Daten angekommen.«

»Ordne sie nach Dringlichkeit, dann laß hören.«

»Hier die Schlagzeilen in chronologischer Reihenfolge. Die Programmiererin kann dann über die Dringlichkeit entscheiden: Ich habe eine mögliche Ursache für die Schmerzattacke der Einheit Mulligan gefunden. Chief Albert Bates von der hiesigen Polizei hat angerufen. Das Leben von Sally Pharis ist sehr wahrscheinlich in Gefahr. Mulligans Leben könnte in Gefahr sein. Die Sicherheit der Republik ist möglicherweise betroffen.«

»Du lieber Himmel! Fang mit Mulligan an, dann sprich über Sally.«

»Beider Leben ist in Gefahr, weil sie etwas über den Mord an dem Carli Imbeth ka Gren wissen. Die Einheit Mulligan versuchte, am Tatort telepathisch tätig zu werden. Die Einheit Sally kam höchstwahrscheinlich zufällig am Tatort vorbei.«

»War es das, was Bates gesagt hat?«

»Ein guter Schluß. Er möchte dich auch sehen, vor acht Uhr heute abend, wenn irgend möglich. Er sagte nicht, warum.«

Lacey ist ein wenig irritiert. Wenn Bates kein Polizist wäre, dann fände sie ihn gar nicht übel. Aber wie alle Angehörigen der Flotte, die zum großen Teil ihren mageren Sold 97

durch Schmuggel aufbesserten, hat sie eine instinktive Abneigung gegen jede Art von Polizei, gleich auf welchem Planeten. Auf der anderen Seite mußte wegen des ermordeten fremden Wesens im Rattennest etwas geschehen.

»Ruf Bates an, Buddy.«

Eine Weile summt und klickt es. Dann meldet sich Buddy:

»Ich habe die Verbindung, er ist aber nicht da.«

»Dann hinterlaß ihm diese Nachricht: Lacey ist zu Hause und will mit Ihnen sprechen, wann immer Sie können.«

»Erledigt, Programmiererin.«

»Gut. Dann der nächste Befehl. Frag beim Raumhafen an, ob das Handelsschiff >Montana< schon das System erreicht hat. Wenn ja, wende dich an Sam Bailey - kannst du dich an ihn erinnern?«

»Natürlich. Ein Freund von dir, erstaunlich tüchtig, außerdem durch und durch seriös.«

»Na, wenn das von dir kommt, dann muß es ein Kompliment sein. Aber zur Sache: Frag ihn, ob er irgend etwas Ungewöhnliches im Bereich unseres Systems bemerkt hat, besonders etwas, was man als Hinweis auf die Gegenwart eines fremden Schiffs werten könnte. Wenn er irgend etwas weiß, dann soll er es sofort in Grün-04 senden. Und sag ihm, ich brenne drauf, ihm einen Drink zu spendieren.«

»Befehl verstanden, doch muß ich meine Programmiererin darauf aufmerksam machen, daß der Code Grün-04 seit fünfzehn Jahren nicht mehr benutzt wird.«

»Und das ist genau der Grund, warum Sam ihn benutzen soll. Wir beide kennen ihn auswendig, aber ein Lauscher wird ihn erst identifizieren müssen. Wollen wir wetten, daß fast niemand mehr das Dechiffrierprogramm in seinem Computer hat?«

»Das wäre ein logischer Schluß, Programmiererin.«

Mit einem Mal ist sie entsetzlich müde, sie kann das Gähnen nicht länger unterdrücken. Sie schüttelt heftig den Kopf, um sich wachzuhalten.

»Verdammt, Buddy, ich muß jetzt schlafen. Paß auf Mulli-

98

gan auf, leg eine Lichtschranke über ihn und gib Alarm, wenn er sich davonmachen möchte, während ich schlafe. Und weck mich auch, wenn Bates sich meldet.«

»Wie du möchtest.«

Buddy hört sich ein wenig verstimmt an. Kurz bevor sie richtig eingeschlafen ist, fällt ihr ein, daß er ja noch mehr Neuigkeiten für sie hatte. Aber da ist sie schon zu weit hinüber, um sich noch einmal aufzuraffen.

99

Erstes Zwischenspiel: Der Jäger

Wohin er auch geht, diese tödliche Wut folgt ihm immer auf dem Fuße. Sie ist sein Lebensinhalt.

Tomasos Wut ist immer zugegen, vielleicht verborgen wie ein zusammengerolltes Tier in seinem Bau, vielleicht unsichtbar in der nächtlichen Schwärze seiner abgründigen Seele. Doch läßt die Wut niemals seine Hände zittern, wenn er tötet, läßt ihn nie ungeduldig fluchen, wenn er ohne einen Laut, reglos in seinem Versteck wartet. Nie erlaubt er seiner Wut, daß sie sich auch nur in einem Zucken seiner Lippen verrät. Doch wenn er unterwegs ist auf seiner mörderischen Reise, dann folgt ihm die Wut wie ein treuer Begleiter, läßt ihn mit kaltem Blick die Menschen, denen er begegnet, mustern: Er sucht Opfer, lohnende, ihm Genuß verschaffende Opfer wenn nur seine Arbeit es ihm erlauben würde.

Manchmal spricht die Wut zu ihm, aber er weigert sich, zuzuhören, denn er haßt diese Stimme. Das hohe, schrille Jammern eines verängstigten Kindes. Viel eher mag er den Gedanken, daß dieses Kind nicht mehr existiert, weil seine Seele ununterscheidbar mit jener des Mannes, der er geworden ist, verschmolzen sein muß. Es durfte nicht mehr existieren, dieses nach der Mutter winselnde und bettelnde Gör, wie es schrie und weinte und um sich schlug bei der Nachricht vom Tod der Mutter.

Getötet durch jene Hände, die den Kleinen durch öde, kalte Korridore zerrten und ihn in ein Zimmer sperrten, auch wenn er noch so sehr an die Stahltür hämmerte und seinen ganzen Haß hinausschrie. Er erinnert sich sehr gut an dieses Zimmer, auch an die Blutflecke an der Tür, von den kleinen zerschundenen Händen, die hämmerten und hämmerten, unaufhörlich, so endlos wie der Schrei aus Furcht und Wut. Der Fußboden des Zimmers war mit einem abgewetzten blauen Teppich ausgekleidet.

Ein Fenster gab es nicht, nur ein großes Hologramm an einer Wand, das eine Gebirgslandschaft mit einem Wasserfall zeigte. Endlos schäumte die weiße Gischt zu Tal, endlos kräuselten sich die weißen Wolken, ohne sich je von der Stelle zu bewegen. Sonst gab es nichts in diesem Raum: kein Bett, kein Fernsehgerät, keinen Stuhl, kein Buch oder Tonband. Als der Kleine aufgehört hatte zu schreien, schob ein Roboter durch eine Klappe in der Tür ein Tablett mit Essen herein. Er richtete seine Sensoren auf die blutigen Hände, doch niemand kam, um sich um ihn zu kümmern und ihn zu verbinden. Schließlich wusch er sie in dem Badezimmer nebenan und wickelte Klopapier darum. Es war das erste Mal, daß er sich um seine Gesundheit selbst kümmern mußte, aber nicht das letzte Mal.

Das Essen bestand aus einem Kanten Brot, einer Schale Suppe und einem Glas wäßriger weißer Flüssigkeit, die er nicht kannte. Es war viel zu wenig, doch weil er nie zuvor hatte hungern müssen, glaubte er, daß der Roboter ihm mehr bringen würde, wenn er darum bat. Doch nahm er nur das Tablett mit sich und schlug die Türklappe hinter sich zu. Der Kleine wartete an der Tür eine ganze Weile, doch gab es erst am nächsten Tag wieder zu essen. In dieser Nacht versuchte er, so gut es ging, auf dem Fußboden zu schlafen, während sein knurrender Magen ihn quälte. Er schlief und träumte doch nur von seiner Mutter. Tränenüberströmt wachte er auf.

Die Zeit verging, und nur ein Gedanke beschäftigte ihn, wurde zur fixen Idee: Essen. Nie wußte er, wann der Roboter kommen würde, wußte auch nicht, wieviel er ihm zu essen brachte. Manchmal gab es mehrere reichliche Mahlzeiten hintereinander, dann wieder saß er tagelang, wie es ihm schien, hungrig in seinem Gefängnis. Essen. Noch ein anderer Gedanke ließ ihn nicht los: die Zeit. Er versuchte, eine Möglichkeit zu finden, die Zeit zu messen, doch es gelang ihm nicht. Unmöglich zu sagen, wie lange er weinte, wie lange er schrie, wie lange er stumm in einer Ecke lag. Eines Tages kamen zwei Menschen durch die Tür, ein

Wächter mit einer Betäubungspistole und ein anderer Mann, der seiner schwarzen, glänzenden Uniform nach ein wichtiger Beamter sein mußte. Tomaso wünschte sich, sie hassen zu können, doch es waren Menschen, Gesichter, menschliche Gesichter, die zu ihm in sein einsames Gefängnis gekommen waren. Der Wächter sagte kein Wort. Der gepflegte schwarze Bart des Beamten hüpfte ein wenig, wenn er sprach.

»Willst du ein braver Junge sein, Tomaso?«

»Ihr habt meine Mutter getötet!«

»Wir waren es nicht. Die Meister haben es getan. Willst du ein braver Junge sein? Wenn nicht, werden sie auch dich töten. Deine Mutter war eine Para, auch du hast Psi-Talent. Weißt du, was das ist, Tomaso?«

»Ich habe gespürt, wie sie starb.«

Der Beamte brachte vor Unsicherheit das Wort nicht heraus, das ihm auf der Zunge lag. Nur sein Mund öffnete sich, ein feuchter Fleck Rosa inmitten des schwarzen Barts, und sein Blick war einen Augenblick lang traurig. Doch als der Wächter ihn ansah, faßte er sich.

»Dann weißt du, wie es sein wird, wenn man auch dich tötet.«

Nein, er schrie nicht, er weigerte sich einfach zu schreien, während er sich immer mehr zusammenrollte. Den Schrei konnte er unterdrücken, aber er konnte nichts dagegen tun, daß diese Stimme immer weiter in seine Ohren drang.

»Nun, Tomaso, wenn du ein braver Junge bist, werden sie dich nicht töten. Statt dessen wirst du etwas Besonderes werden. Weißt du, was die Meister mit dir vorhaben? Sie werden dich auf eine sehr gute, sehr besondere Schule schicken, wo du lernen wirst, deine Begabung richtig zu gebrauchen. So besonders ist diese Schule, daß die meisten Leute gar nicht wissen, wo sie ist. Es ist ein Geheimnis, und du wirst zu diesem großen Geheimnis gehören. Ich denke, daß dir das gefallen wird.«

Alles, wirklich alles würde besser sein als dieses Zimmer.

102

Jede Aussicht mußte angenehmer sein als dieser bis zur Übelkeit sich ihm aufdrängende Wasserfall mit dem unaufhörlich auf der Stelle fließenden Wasser. Tomaso streckte sich auf dem Boden aus und betrachtete den Beamten.

»Gibt es zu essen an dieser Schule?«

»Sicher, so viel du magst.« Der Mann hockte sich neben ihn. »Und weißt du was? Deine Mutter hat die Meister belogen; das ist der Grund, warum sie sterben mußte.«

»Sie hat mir erzählt, daß sie jede Frau töten, die eine Para ist. Sie hat mir gezählt, daß sie auch alle Jungen töten.«

»Nein, das ist nicht wahr.«

»Du lügst! Ich kann immer sehen, wenn jemand lügt.«

»Ich hätte daran denken müssen. Also gut, sie hatte recht. Sie haben sie getötet, sobald sie sie gefunden hatten. Aber sie töten nicht alle Jungen, sondern nur die kränklichen. Aber du bist doch ein kräftiger Bursche, aus dir kann ein richtiger Mann werden, nicht wahr? Also, was hast du vor willst du sterben oder tun, was sie von dir verlangen?«

»Erst will ich wissen, was ich auf dieser Schule lernen soll!«

»Du gefällst mir, Kleiner. Du redest, als ob du eine Wahl hättest.« Der Mann lächelte, es war ein ehrliches Lächeln. »Also gut, du wirst lernen, wie man Menschen tötet, heimlich und unauffällig. Hast du je das Wort
Assassinen
gehört?«

In seiner Überraschung setzte er sich auf, zog die Beine an und legte die Arme darum.

»Ich habe davon gehört. Sind diese Geschichten wahr, die man sich erzählt?«

»Nur zu wahr. Nun, was meinst du würde deine Mutter wollen, daß du stirbst? Würde sie dir nicht raten, ja zu sagen!«

»Na ja ... ich glaube, das würde sie tun.«

Und die Stimme des Jungen erstickte in einem Weinkrampf.

Es war noch an demselben Tag, nachdem er gebadet hatte und mit einem guten Essen und neuen Kleidern versorgt

103

worden war, daß er zum ersten Mal einen der
Meister
sah. Im Imperium der Allianz gab es zwei den Menschen vorbehaltene Planeten, und nur, wer sich als besonders vertrauenswürdiger Diener der Meister erwiesen hatte, durfte auch die übrigen betreten. Zwar hatte Tomaso während seines ganzen Lebens (immerhin sieben Jahre) von den Meistern gehört, hatte Bilder von ihnen gesehen doch hatte er nie einem von ihnen gegenübergestanden. Das lag zweifellos daran, daß er sich mit seiner Mutter auf der Farm der Großmutter versteckt hielt, bis zu jenem Tag, an dem sie von der Polizei aufgespürt wurden. Denn die H'Allevae scheuten keineswegs den Kontakt zu ihren menschlichen Untertanen, obwohl immer wieder einer ihrer Beamten ermordet wurde. Der Mann mit dem schwarzen Bart, Senor von Hartzmann, schärfte ihm ein, sich ja nicht daneben zu benehmen, und brachte ihn in einen großen Kuppelbau, der höchst seltsam eingerichtet war: Streben, Plattformen und Leitern aus Aluminium, die alle miteinander verbunden waren, bedeckten die Wände. Auf den Plattformen und waagerechten Streben saßen vielleicht zwanzig H'Allevae, jeder etwa eineinhalb Meter groß, mit langen, dünnen Armen und sehr kurzen, eigenartig gebauten Beinen. Sie trugen reichverzierte Gewänder, die geradezu übersät waren mit Edelsteinen und Muscheln. Auf ihren haarlosen Gesichtern wölbten sich große Facettenaugen über langen, beweglichen Nasen von weißer Farbe. Die Lippen darunter erinnerten so sehr an einen menschlichen Mund, daß man meinen mochte, Menschen, die Masken trugen, vor sich zu haben. Auf der untersten Plattform, die immer der Platz des Anführers war, weil dies die verwundbarste Position war, saß ein besonders prächtig geschmückter H'Allev'jan. Als er sprach, war jedoch nichts Menschliches an dieser Stimme: ein auf- und abschwellendes, wie aus Kicherlauten bestehendes Singen.

»Eure Methoden haben ihn nicht brechen können, Senor von Hartzmann?«

»Dieser Kleine, Sir, hat mehr Mumm als viele Erwachsene. Er ist widerstandsfähig, er dürfte es schaffen.«

Der Meister drehte den Kopf einmal rasch hin und her, um Tomaso mit den smaragdgrünen Nebenaugen zu mustern, die an jeder Kopfseite unmittelbar über den von Haarkränzen umgebenen Ohröffnungen lagen. Er zog ein Sprühflakon aus einer Tasche seines roten und violetten Gewands und hüllte den Jungen in eine Wolke aus süßlichem, blumenartigem Duft. Jahre später erst erfuhr Tomaso, daß dieses Duftsignal bedeutete, daß er von jenem Tag an zum Clan dieses Meisters gehörte. In primitiven Zeiten, als die H'Allevae noch kichernd und heulend durch die Berge streiften und von Früchten und Insekten lebten, hätte der Anführer ihn jeden Morgen mit seinem Urin markiert. Nur ein so ausgezeichnetes Clanmitglied konnte am Abend seinen Anteil an der Nahrung bekommen, die man den Tag über gesammelt hatte. Nun waren die Meister (sie hatten dieses Wort nicht ohne Ironie einer irdischen Sprache entnommen) Herren über ein Drittel des erforschten Raumsektors; zu essen gab es, soviel man wollte, und markiert wurde ein Clanmitglied nur ein einziges Mal, und zwar mit erlesenem Parfüm. Doch an jenem Tag hätte Tomaso am liebsten geniest. Er haßte den süßen Geruch nicht weniger als das schmuckbehängte Wesen, das ihn eingesprüht hatte. Und in der Nacht, als er sich in einem richtigen Bett in den Schlaf weinte, da wurde der Duft eins mit der schluchzenden, verängstigten Kinderstimme, so daß selbst Jahre später, immer wenn er den kleinen Jungen tief da drinnen wimmern hörte, auch diese Süße in seine Nase zu steigen schien.

Aber er achtet nicht mehr auf diese Stimme, vielleicht manchmal beim Einschlafen. Für einen kurzen Augenblick spürt er dann den Schmerz in den blutigen kleinen Händen, hört den heiseren Schrei des Hasses, doch nur so lange, bis sein in solchen Dingen geübtes Bewußtsein diese Störung wie auf Knopfdruck ausschaltet. Klick, dann war angenehme Stille. Wenn er wach ist, so wie jetzt, während er die

104

105

H-Straße entlanggeht, nachdem er Sally Pharis' Überreste in ' einen Müllbehälter hinter einem Restaurant geworfen hat, , da erinnert er sich nicht. Er weigert sich einfach, sich an diesen Jungen zu erinnern. Aber die Wut, das ist etwas anderes. Diese Wut ist ein Freund, ein hilfreicher Begleiter, der seinen Geist klar und wach hält und ihn seine Bestimmung nie vergessen läßt: zu töten. Als die Zeit kam, um die Mittagsstunde, da tat es ihm leid, daß er Sally nach den schönen Stunden, die sie ihm bereitet hat, töten mußte; aber es war die Wut, die sie tötete, die sein Messer dafür benutzte.

Er bleibt vor dem Schaufenster eines nun geschlossenen Ladens stehen, das polarisierte Glas macht es zu einem idealen Spiegel, und rückt den Helm der Sonnenpelerine zurecht. Dieser Sonnenschutz ist eine perfekte Tarnung. Solange er nicht sprechen muß, ist er so gut wie unsichtbar, nur eines dieser weißvermummten Gespenster, die durch die fast menschenleeren Straßen unter der Glut der späten Nachmittagssonne huschen. Sollte die Polizei Sallys Leiche finden, bevor ihr Körper in der Recyclinganlage verwertet worden ist, die das kostbare Wasser wiedergewinnen soll, wer könnte dann sagen, welches der weißen Gespenster der Täter war? Die schweren Stiefel, die unter der Pelerine hervorlugen, konnten ebensogut einem Lizzie wie einem Menschen gehören, obwohl er natürlich für einen Carli oder einen Hüpfer (wie die anderen Spezies etwas respektlos die H'Allevae nennen) zu groß ist. Mit einem Grinsen hinter der reflektierenden Sichtscheibe geht er weiter, ein gewöhnlicher Bürger dieser Stadt, der nichts zu verbergen hat und darum auch keinen Grund zur Eile. Als er in die Gasse zu dem billigen Hotel einbiegt, in dem er seine Ausrüstung zurückgelassen hat, fragt er sich, ob überhaupt jemand die Leiche finden wird. Wahrscheinlich schon ... Die Recyclingleute paßten auf, gut möglich also, daß ihnen der merkwürdige Geruch bei jenem Behälter auffällt. Er bemerkte ihn erst, nachdem er Sally darin verstaut hatte; doch als er wegging, da zog es wie ein Schwaden hinter ihm her, ein schar-106

fer Geruch, wie nach verdorbenem Essig. Wahrscheinlich veranlaßte das die Abfalltechniker, den Inhalt zu überprüfen, denn es konnte ja etwas in dem Behälter sein, das den ganzen Inhalt verdarb und für die Wiedergewinnung von Proteinen untauglich machte. Während er darüber nachdenkt, steigt ihm dieser Geruch noch immer in die Nase, vielleicht haftet er noch an seinen Händen oder dem Overall.

Er nimmt sich vor, die hohen Gebühren für eine Extradusche in Kauf zu nehmen, obwohl er alle diese Kleinigkeiten verabscheut, die unausweichlich dazu führen, daß man im Computer registriert wird und die Aufmerksamkeit der Hotelangestellten erregt.

Other books

The Warrior Prophet by Bakker, R. Scott
The Elusive Wife by Callie Hutton
London Lace, #2 by Martine, Catou
Kajori (Kolkata Memoirs) by Mitra, Sramana
The From-Aways by C.J. Hauser
No Legal Grounds by James Scott Bell
Aleister Crowley by Gary Lachman
Beauty's Beast by Tara Brown