Read Meat Online

Authors: Joseph D'Lacey

Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction

Meat (12 page)

BOOK: Meat
6.01Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Sie entzündete ein kleines Feuer und zog ihren harten Holzstuhl nah an die Flamme. Sie nahm das Buch des Gebens auf den Schoß, schlug es auf und begann zu rezitieren:

»Der Vater hat seine Kinder, sein eigen Fleisch und Blut, herabgesandt zur Erde, auf dass wir, die Städter, keinen Hunger darben. Er schuf seine Kinder nach seinem Angesicht und legte nieder die Gebote des Fleisches, auf dass wir uns ihrem Opfer würdig erweisen. Seine Gebote lauten:

Ihr sollt euch nähren vom Fleisch meiner Kinder. Meine Kinder sind euer Vieh. Brecht ihre Körper als euer täglich Brot, trinkt ihr Blut an Weines statt. So ihr diese Gabe täglich teilet, werdet ihr mit mir vereint sein.

Ihr sollt meine Kinder schweigen lassen, in dem ihr beschneidet die Bänder in ihren Kehlen zur Zeit ihrer Geburt. Ihr Schweigen sei geheiligt, auf dass sie niemals sprechen die Worte des Himmels.

Ihr sollt meine Kinder vor Torheiten bewahren, indem ihr ihnen nehmet die ersten beiden Knochen eines jeden Fingers in ihrer ersten Woche.

Ihr sollt meine Kinder am Wandern hindern, indem ihr ihnen nehmet die ersten beiden Knochen des ersten Zehs eines jeden Fußes in ihrer zweiten Woche.

Ihr sollt meine Kinder haarlos halten, indem ihr ihnen das Sakrament der Taufe spendet im duftenden Becken.

Ihr sollt die mächtigsten männlichen Kälber als Bullen halten, auf dass ihre Nachkommen sie an Zahl und Stärke übertreffen.

Ihr sollt all die anderen männlichen Kälber keusch halten, indem ihr sie kastriert in ihrem neunten Jahr.

Ihr sollt ihre Münder zahnlos halten.

Ihr sollt eine geheiligte Schar männlicher Kälber fernhalten von Licht und Bewegung. Nehmt diese als zartesten Ausdruck meiner Liebe.

Ihr sollt trinken die Milch der Kühe und aus dieser Milch zu eurer Erquickung Butter, Joghurt und Käse bereiten.

Ihr sollt meinen kranken Kindern das Geschenk der Heimkehr zu ihrem Vater machen. Doch es möge ihnen kein Leid geschehen, solange sie in eurer Obhut verweilen.

Meine Kinder sind mein Opfer, für einen jeden von euch, auf dass ihr niemals Hunger leidet. Ihr Fleisch ist geheiligt. Ihr sollt mir keine Schande bereiten, indem ihr es verschwendet.

Meine Kinder sind erfüllt von meiner Gnade, göttlich durch meinen Willen. Ihr sollt nicht bei ihnen liegen, noch ihr Fleisch mit dem euren beschmutzen.

Indem ihr euch nährt vom geheiligten Fleisch meiner Kinder, sollt ihr eines Tages selbst die Gnade der Heiligkeit erfahren und mir an meinem Tische zur Seite sitzen. Das Leiden meiner Kinder ist bedeutungslos im Angesicht des Leidens der Menschheit. Denn sie geben sich bereitwillig hin, wohl wissend um ihre Heimkehr zu mir.

Im Augenblick der Heiligsprechung sollt ihr begegnen meinen Kindern im Osten, auf dass ihre Seelen aufsteigen in die aufgehende Sonne und somit zu mir.

Meine Kinder sind eure Arznei. Zu heilen euer Auge, esst ihr Auge. Zu heilen euren Magen, esst ihren Magen. Um auszutreiben die Tollheit, esst ihr Gehirn. Meine Kinder sind eure Arznei, hingegeben, euch selbst zu heilen.«

Sie seufzte und zog ihren Stuhl noch etwas näher an die flackernden Flammen des Feuers heran. Trotzdem wollte es ihr einfach nicht wärmer werden, und sie fürchtete, sich etwas eingefangen zu haben. Die Lektüre, die sie für den Abend ausgewählt hatte, vermochte ihr nur geringen Trost
zu spenden und gewiss beantwortete sie keine ihrer drängenden Fragen zur rätselhaften Herkunft Richard Shantis. Das Kind Richard Shanti war bei der Geburt verstorben, und doch weilte der Mann Richard Shanti in Abyrne. Lebendig und ― wenn auch schmerzhaft dünn ― scheinbar bei bester Gesundheit, seine Abstammung von den alten Familien proklamierend. Eine gewagte Behauptung. Kein Risiko, das man unbedacht einging.

Dafür gab es nur zwei Erklärungen, die halbwegs Sinn ergaben. Entweder er log, im Glauben, sie würde seine Behauptung nicht eingehend überprüfen, oder er war tatsächlich der Überzeugung, er wäre ein Shanti aus der Linie der ersten Familien. Was war die Wahrheit? Er war ganz bestimmt kein Dummkopf. Still, sicher, aber keinesfalls dumm. Sie konnte an seinen Augen ablesen, dass er weitaus mehr wusste, als er vorgab. Sie glaubte auch nicht, dass er sich selbst etwas vormachte. Zugegeben, er sah abenteuerlich aus. Er hatte die asketische Gestalt eines Flagellanten, aber das war noch lange kein Grund, anzunehmen, er würde unter Zwangsvorstellungen leiden. Sie würde alles darauf verwetten, dass Richard Shanti fest der Überzeugung war, er sei der wahre Sohn von Elizabeth und Reginald Shanti. Dass er keine Ahnung davon hatte, wie es in Wirklichkeit um seine Herkunft bestellt war.

Das erklärte zumindest Teile des Mysteriums. Was aber, wenn er nicht in der Erbfolge der Shantis stand, wenn er nicht ihr Sohn war? Wer war er dann? Und war seine Identität überhaupt von Bedeutung für das Wohlergehen seiner Kinder?

Das Innerste ihrer Eingeweide schien sich umeinanderzuknoten. Sie hätte sich am liebsten in den Bauch geboxt, um den Schmerz zu vertreiben. Ohne Vorwarnung wurde ihr schlagartig übel. Es blieb keine Zeit, es bis auf die Toilette
zu schaffen. Sie kniete sich vor das Feuer und spuckte die unverdauten Inhalte ihres Magens in den Feuerholzeimer aus Messing. Der Anblick der an den Holzblöcken und Spänen klebenden, halb durchgekauten Innereien machte es nur noch schlimmer. Sie würgte und würgte und versuchte, den dornigen Knoten des Schmerzes aus ihren eigenen Gedärmen zu zwingen. Aber nachdem ihre Mahlzeit heraus war und dampfend ihren Holzvorrat verunreinigte, nachdem sie sich komplett entleert hatte, spürte sie, dass die Stacheln sich in ihr festgebissen hatten.

Und sie verschwendete keinen Gedanken mehr an Richard Shanti.

  
7

 

»Lass uns das dunkle Spiel spielen«, sagte Hema.

Sie waren allein in ihrem Zimmer. Ihre Mutter hatte einen Besucher und wollte nicht gestört werden. Die Mädchen kümmerte das nicht. Sie wurden einander niemals müde.

»Nein«, antwortete Harsha. »Das funktioniert nicht mehr. Lass uns etwas Neues spielen.«

Sie knieten vor einer abgenutzten Truhe und öffneten den Deckel. Die Spielsachen darin waren alt und schadhaft ―wie auch die Truhe selbst. Sie enthielt das Spielzeug von Kindern, die diese Welt vor langer Zeit verlassen hatten. Wenn sie alle Spielsachen hinausräumten, bot die Kiste gerade genug Platz für einen der beiden Zwillinge. Aber sie wuchsen schnell und das »dunkle Spiel« war eines, dass sie inzwischen nur noch selten spielten. Jahrelang hatten sie sich abwechselnd gegenseitig in die Kiste gesperrt und sich auf sie gesetzt. Es war ein Wettstreit, wer es am längsten darin aushielt. Der Zeitraum, den sie alleine draußen auf dem Deckel oder drinnen, in der unbequemen Dunkelheit aushielten, wurde länger und länger, bis schließlich nicht mehr genug Zeit blieb, sich innerhalb einer Partie überhaupt noch abzuwechseln. Aufgrund ihres raschen Wachstums stellte das Spiel für sie irgendwann keine Herausforderung mehr dar. Es war einfach nicht mehr dasselbe, wenn man ständig mit der Schulter gegen den Deckel stieß und das Licht hereinfiel.

Die Kiste war aus Holz und von Hand gefertigt, womöglich von einem wohlmeinenden Vater mit handwerklichen Fähigkeiten. Jede ihrer Wände war, innen wie außen, mit angetackertem Vorhangstoff bezogen. Im Inneren, wo die Gegenstände Tausende von Malen herausgenommen und zurückgelegt worden waren, war der ausgeblichene Bezug rissig geworden, und man konnte die wurmstichigen Kiefernbretter sehen, aus denen der Boden und die Wände der Kiste gefertigt waren. Der Vorhangstoff war vom Alter seidig weich. Hin und wieder verbrachten die Mädchen Minuten damit, die Wunden im Material heile zu streicheln, bloß wegen des angenehmen Gefühls in den Fingerspitzen.

Auch der Deckel der Kiste war mit Vorhangstoff bezogen, aber die Oberseite war zusätzlich mit einem uralten Stück Steppdecke gepolstert. Das Material, mit dem diese Polsterung bespannt war, war zwar ebenfalls zerschlissen, aber nirgendwo gerissen. Wer immer die Truhe gebaut hatte, war weitsichtig genug gewesen, den Vorhang beim Bezug des Deckels mehrlagig zu verwenden. Der Deckel war mit drei, immer noch wie neu aussehenden Messingscharnieren befestigt, die allerdings recht lose waren. Obwohl ihr Vater versprochen hatte, sie wieder zu befestigen, war er immer zu müde, um daran zu denken. Die Kiste hatte ihre Macken. Hin und wieder forderte sie ein Opfer in Form eines Schnittes durch eine rostige Klammer oder gab einer sorglosen Hand einen Splitter mit.

Die Kiste roch nach Dingen aus der Vergangenheit, die die Zwillinge niemals sehen oder kennenlernen würden. Beide, Hema und Harsha, verbanden den Geruch mit Spiel, mit Abenteuer und Fantasie. Wenn man die Kiste öffnete, konnte man ihn einatmen. Wenn er den beiden entgegen-strömte, betraten die Mädchen eine magische Welt; eine Welt, die immer anders, immer neu war. Sie enthielt eine
alte Holzeisenbahn mit Pflöcken auf den Anhängern, auf denen geschnitzte und bemalte Soldaten in Habtachtstellung steckten. Ein Miniaturessgeschirr. Neun silberne Fingerhüte, die sie als kleine Becherchen verwendeten. Es gab einen alten Teddybären mit Kreuzstichen anstelle der Augen, der mehr kahle Stellen als Pelz besaß. Ein Damespiel, bei dem einige Steine fehlten. Einen Blechkreisel, von dem längst die Farbe abgeblättert war. Es gab alte Seidenschals in vielen Farben, einen Filzhut und eine Melone. Tief in ihren ledernen Schweißbändern bargen die Hüte den strengen Geruch der fettigen Skalps ihrer Vorbesitzer. Den Geruch von Fremden, die in der Vorstellung der Zwillinge Gestalt annahmen. Puppen, Würfel, Dartpfeile. Einen seltsamen Plastikkubus mit neun farbigen Feldern auf jeder Seite, die sich drehen und verstellen ließen. Auf dem Boden der Kiste rollten Murmeln.

»Ich weiß etwas, das wir spielen könnten«, sagte Harsha und nahm eine weibliche Plastikpuppe mit langem blondem Haar heraus. Die Puppe trug ein pinkes, rotes und weißes Outfit: rote Baskenmütze, pink und weiß gestreifte Bluse. Einen roten Minirock und hochhackige rote Schuhe. Sie hatte einen roten Plastikgürtel und eine rote Plastikhandtasche. Harsha sah ihre Schwester an, und sie teilten einen Moment stummer Verständigung.

»Wir brauchen Mamas Schere«, sagte Hema.

»Du musst ganz leise sein.«

»Sie wird nichts hören«, sagte Hema. »Sie ist viel zu beschäftigt.«

Voller Aufregung sprang sie auf die Füße und tippelte auf Zehenspitzen zur Tür. Unten war alles still. Sie schlich durch den Flur ins Badezimmer und nahm die Nagelschere aus dem Becher, den sie sich mit zwei Nagelfeilen und anderen Gerätschaften zur Finger- und Fußnagelpflege teilte.

Die Schere hatte gebogene Klingen, aber Hema war sich halbwegs sicher, dass sie ihren Zweck erfüllen würde. Sie huschte zurück über den abgenutzten Teppich und hatte ihr Zimmer schon beinahe wieder erreicht.

Von unten hörte sie Geräusche: das Rücken eines Stuhls, ein Küchenschrank wurde geschlossen, etwas schlug auf die Arbeitsplatte? Sie war sich nicht sicher.

Sie hielt inne und lauschte konzentriert. Die Stille schien lebendig, so als würde unten jemand nach ihr horchen und nicht umgekehrt.

Dann ertönten weitere Geräusche. Sie waren zu undeutlich, um sie genau zu bestimmen. Wieder der Stuhl? Eine flüsternde Stimme? Sie wartete nicht ab, um es herauszufinden. Noch vorsichtiger als zuvor kroch sie die letzten Schritte bis zur Tür, schlüpfte hindurch und schloss sie fest und geräuschlos hinter sich. Mit einem triumphierenden Blick hielt sie die Schere in die Höhe, und Harsha lachte sie an.

Das Spiel konnte beginnen.

Sie begannen, indem sie der Puppe die Kleider auszogen.

 

Es gab so vieles, was es über die Städter zu sagen gab, die in die Garage kamen. So vieles, das es über
Menschen
zu sagen gab. Dafür musste man sie nur ansehen.

John Collins sah sich jeden Einzelnen seiner Besucher genau an, wenn sie durch die Türen der Garage schlüpften, mit gesenktem oder aufrechtem Blick, schuldig, oder voller Hoffnung. Was er sah, bestärkte ihn in seinem Glauben. Die Menschen waren Tiere, Tiere vom selben Geschlecht, aber sie waren kein Vieh. Sie waren Individuen, und schon ihre bloße Existenz verlieh ihnen etwas Schönes und Göttliches.

Er hielt seine Ansprachen in der Garage nun schon seit
Monaten, und einige der Besucher hatten begonnen, seine Lehren zu den ihren zu machen. Sie unterschieden sich von den Neulingen. Oh, ja, sie waren etwas dünner, aber sie litten keinen Hunger. Sie hatten eine Aura. Collins konnte es sehen. Er fragte sich, ob es wohl sonst noch jemand sehen konnte. Seine Fähigkeit, das Licht zu erkennen, war immer stärker geworden, seit er den neuen Weg eingeschlagen hatte. Er sah Anhänger, die erst neun oder zehn Wochen dabei waren, deren ganzer Körper von einem Glorienschein aus sanftem Licht umhüllt war. Eine Art leuchtender Nebel, der sie ständig umgab. Niemand sonst schien es zu bemerken. Ganz sicher nicht die Neulinge. Womöglich waren sich nicht einmal die Träger selbst ihrer Aura bewusst. Es war ein Zeichen, dass das, was er tat, das Richtige war. Alles, was er machte, bestätigte ihn darin.

Eines Oktoberabends durchschritt ein Suchender die Türen der Garage, der sich von allen bisherigen Besuchern unterschied. Collins spürte sofort, dass etwas an ihm ungewöhnlich war. Der Mann war bleichhäutig ― sein Gesicht hatte schon fast einen Stich ins Gelbliche ―, und sein Haar war schwarz, dicht und lockig. Es fiel ihm bis auf die Schultern. Er trug einen Bart, der noch dichter und dunkler als seine Haartracht war, aber seine ausgemergelte Erscheinung nicht zu verbergen vermochte. Noch versteckte er die sanftmütige Ruhe, die seine braunen Augen ausstrahlten. Er trug einen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen. Ein Kleidungsstück von guter Qualität, das man selbst in den besten Vierteln von Abyrne selten zu sehen bekam. Collins hegte Vermutungen ― nein, er war sich sicher ―, was diesen Mann betraf, noch bevor dieser mit gekreuzten Beinen auf dem Betonboden Platz genommen hatte. Übermäßig üppiges Haar war eine Modeerscheinung unter den Arbeitern bei MFP, ganz gleich, ob Melker, Viehtreiber, Hirten, Fleisch
hauer oder Schlächter. Es unterstrich den Unterschied zwischen ihnen und den glatthäutigen Auserwählten. Und ein solch teurer Mantel konnte nur einem Dieb oder jemandem gehören, der ihn sich leisten konnte. Die Fleischverarbeiter, sowie Magnus' Hausangestellte und seine persönliche Entourage waren die einzigen Leute in der Stadt, die so viel Geld besaßen. Aber seine knochige Gestalt, die sich unter dem Mantel abzeichnenden, hageren Muskeln und knotigen Sehnen, standen im Widerspruch dazu. Leute, die in Magnus' Fabriken arbeiteten, waren wohlgenährt. Sie waren fett vom besten Fleisch. Das Gleiche galt für die Männer und Frauen, die bei Magnus persönlich beschäftigt waren: seine Dienstboten und Dienstmädchen sowie seine kleine Armee von Wachen und Eintreibern. Dieser Mann war so schlagkräftig, dass er als Eintreiber durchgehen konnte. Zumindest wirkten seine Augen getrieben genug, doch sie waren eindeutig zu gütig.

BOOK: Meat
6.01Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Other books

Little Wolf by R. Cooper
Shhh by Raymond Federman
One in a Million by Jill Shalvis
Louse by David Grand
The Silver Siren by Chanda Hahn
A Broken Christmas by Claire Ashgrove
Return by Peter S. Beagle; Maurizio Manzieri