Meat (14 page)

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Authors: Joseph D'Lacey

Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction

BOOK: Meat
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Was er zu die Pastorin sagte, hatte Maya ebenfalls verärgert. Und nachdem Mary Simonson gegangen war, war er Mayas Fragen ausgewichen. Sie wusste nichts über seine angebliche Verbindung zu den ersten Familien oder sein vorgegebenes Wissen um die alten Bräuche. Was immer er Pastorin Mary Simonson gesagt hatte, es hatte sie zwar für den Moment beruhigt, aber was wäre, wenn die Pastorin sich entschied, dem nachzugehen? So weit würde Maya es nicht kommen lassen. Sie war eine Mutter. Und sie würde ihre Pflichten nicht vernachlässigen, selbst wenn ihr Ehemann es tat. Geliebter Vater, dachte sie, der Verlust meiner Kinder steht auf dem Spiel, unsere Familie und all das, was wir gemeinsam aufgebaut haben. Wie konnte das Richard alles so gleichgültig sein?

Schlimmer noch: Sollten sie des fahrlässigen Umgangs mit den Zwillingen für schuldig befunden werden ― was je nach Beweislage durchaus möglich war ―, würde man ihnen den Status als Bürger aberkennen. Ein solches Urteil war unumkehrbar.

Also gab es keinen Grund, sich schuldig zu fühlen.

Es gab vielmehr einen Anlass, sich zu freuen, einen Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu sehen, statt Angst vor ihr zu haben. Auf der Theke vor ihr lagen, säuberlich in weißes Papier verpackt, Päckchen mit Steaks, Wurstketten und zwei große Bratenstücke zum Schmoren oder zur Zubereitung von Suppen und Aufläufen. Es war ein ansehnlicher Stapel Päckchen, mysteriöse Geschenke, an niemanden Spezielles adressiert.

Jetzt gehörten sie ihr.

Sie hatte die verstohlenen Bewegungen hinter ihr beinahe vergessen, bis sie mit dem Kopf leicht gegen den Küchenschrank stieß. Die Bewegung stoppte. Sie drehte den Kopf Richtung Treppe und horchte. Waren da kleine Schritte?

Konzentriert lauschte sie der Stille des frühen Abends. Es war nichts zu hören. Wieder bewegte sich etwas.

Bald würde sie das Abendessen kochen.

Schon beim Gedanken daran, lief ihr das Wasser im Munde zusammen.

 

Whittaker, der Archivar, aus dessen Ohren und Nase Büschel schlohweißen Haars sprossen, schaute verdrießlich. »Was ist es diesmal?«

Seine Stimme keuchte: über klanglose Saiten streichende Luft. Rawlins nieste dreimal hintereinander.

»Das Gleiche wie letztes Mal. Geburten. Und Todesfälle.«

»Hoffentlich etwas aktuelleren Datums«, sagte Whittaker und versuchte sich an einem missglückten Lächeln. »Nach Ihrem letzten Besuch hat es Tage gedauert, bis sich der Staub gelegt hatte.«

Pastorin Simonson taxierte ihn einige Augenblicke. Whittaker streichelte ein Büschel seines Schnauzbarts und bemühte sich, dem Lächeln, das er auf ihrem Gesicht vermutete, zu begegnen.

»Sagen Sie mir, Whittaker, haben Sie gestern Abend gut gegessen?«

»Oh ja, das habe ich.«

»Dürfte ich erfahren, was es gab?«

»Steak, Pastorin. Feinstes, zartes Steak.«

»Und wie alt sind Sie?«

»Ich bin fünfundfünfzig.«

Sie nickte bedächtig.

»Fünfundfünfzig Jahre. Das ist ein sehr hohes Alter.«

In dem Glauben, sie habe ihm ein Kompliment gemacht, stahl sich Whittakers Lächeln aus seinem Versteck und entblößte eine Reihe langer, schiefer Zähne in der Farbe uralten Elfenbeins.

»Ich wage zu behaupten, Mr. Whittaker, dass Sie schon lange tot wären, würden Sie nicht für die Fürsorge arbeiten. Deshalb schlage ich vor, dass Sie mich nach Kräften unterstützen und dankbar dafür sind, dass Sie sich nicht mit größeren Unannehmlichkeiten als dem Staub herumschlagen müssen. Sonst gelange ich womöglich noch zu der Überzeugung, dass Sie zu alt sind, um Ihre Pflichten hier zu erfüllen und sehe mich gezwungen, Ihre sofortige Entlassung zu empfehlen. «

Es schien beinahe so, als wären Whittaker und Rawlins aus einem mehrere Jahre andauernden Tiefschlaf erwacht und würden ihre Umgebung nun erstmals richtig wahrnehmen. Sie lächelte auffordernd, um sie zu ermahnen, sich schleunigst eine sinnvolle Beschäftigung zu suchen.

»Ich begebe mich jetzt in die hinteren Räume des Archivs, den mit Abstand staubigsten Teil. Ich erwarte, dass mir jemand zur Hilfe kommt, wenn ich rufen sollte. Und seid doch so gut und schickt Rawlins von Zeit zu Zeit mit einem Glas Milch vorbei.«

Sie schritt vorsichtig von dannen ― der Staub war ihr genauso unangenehm wie ihnen ― und hob ihre Säume über den dicken Teppich toter Partikel, auf dem die Abdrücke ihrer schweren Fürsorgestiefel zurückblieben. Die aufgewirbelten Staubteilchen tanzten geistergleich in der Luft hinter ihr.

Die Aufzeichnungen, für die sie sich interessierte, waren die ältesten überhaupt. Aufzeichnungen aus der Schöpfungsperiode und der Zeit direkt danach. Die meisten Städter glaubten, die Stadt wurde von Gott erschaffen: eine lautere Siedlung gezeugt aus der giftigen Ödnis. Mary Simonson teilte ihren Glauben. Als Pastorin war es ihre Pflicht, den Leuten die Bedeutsamkeit der Worte im Buch des Gebens zu vermitteln. Und auch wenn es Pastoren gab, deren Glaube
keineswegs allgegenwärtig war, so verstand sie die Evangelien dennoch als durch und durch wahrhaftig.

»Am Anfang war das Versprechen, und das Versprechen war Gott. Gott erfüllte die Leere mit seiner Gegenwart. Er schuf das Feuer, und das Feuer erwuchs aus der Leere. Aus dem Feuer erschuf er die Ödnis, und die Ödnis ward Gewissheit. Aber die Ödnis war ohne Leben. Aus der Ödnis erschuf Gott die Stadt, und er nannte sie Abyrne. Aber die Stadt war still und leer, also schuf Gott die Städter, auf dass sie die Stadt mit Leben erfüllten, und auf ewig in der Stadt verweilen mochten. Aber die Städter litten Hunger, und ihr Hunger erfüllte Gottes Herz mit großem Kummer. So schuf er die Auserwählten, auf dass die Städter niemals mehr Hunger darben sollten. Er schuf die Getreidefelder, auf dass die Auserwählten immerdar gemästet würden. Und so ward die Stadt und alles, was in ihr ist, erschaffen, auf dass es ewiglich so bleibe.«

Einfache Worte für Gottes einfaches Volk, die Städter. Sie liebte die Worte und kannte das gesamte Buch des Gebens in- und auswendig. Obwohl es so war, las sie immer noch darin. Da die Studien des Buches die Macht seiner Botschaft noch mehrten. Im Archiv hatte sie Zugang zu den Zeugnissen einer Zeit, die erst einige Generationen zurücklag, als die ersten Familien der Städter erstmals in Erscheinung traten. Im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten, ihrer Werkzeuge und ihrer Technologie erfüllten sie die Stadt mit Leben, so wie Gott es von ihnen verlangte. Sie hatten das Buch des Gebens, und sie hatten ihren Glauben. Das war alles, was sie benötigten. Sehr wenig hatte sich seitdem in der Stadt verändert.

Sie wollte die ersten Shantis finden und sehen, was sie über sie in Erfahrung bringen könnte. Möglicherweise fand sich ja in den Dokumenten früherer Generationen
ein Schlüssel zu dem Rätsel, das Richard Shanti darstellte. Wenn nicht, würde sie in jüngeren Aufzeichnungen danach suchen, wer sonst zur gleichen Zeit geboren worden war. Es war gut möglich, dass Richard Shanti tatsächlich derjenige war, der er vorgab zu sein. Genauso gut aber konnte er lügen.

Sie würde die Wahrheit herausbekommen. So oder so.

 

8

 

Maya stand am Fuß der Treppe und horchte. Die Zwillinge waren häufig so tief ins gemeinsame Spiel versunken, dass von ihnen kein Laut zu hören war. Aber wenn der Geruch von Essen die Stiege heraufwehte, kamen sie in der Regel schnell herunter. Sie kochte seit einer halben Stunde, und das Abendessen war beinahe fertig, aber von den Mädchen war nichts zu hören und zu sehen.

Ihre Zimmertür war geschlossen. Wenn sie spielten, dann mochten sie es so. Aber sobald es Zeit wurde, das Licht auszumachen, baten sie Maya, sie offen zu lassen. Jetzt konnte sie ihre Stimmchen hören, in deren Flüstern eine ungewohnte Aufregung mitschwang. Doch warum flüsterten sie? Und warum hatte sie das Gefühl, die beiden hätten ihre Türe ganz bewusst vor ihr verschlossen? Es wirkte beinahe so, als hätten sie ein unsichtbares »Bitte draußen bleiben«-Schild an den Türknauf gehängt.

Statt sie herunterzurufen, damit sie sich die Hände wuschen, stieg sie die Treppen hinauf. Vorsichtig trat sie auf die äußeren Kanten der Stufen, wo das Holz weniger knarrte, um laute Geräusche zu vermeiden. Als sie den Absatz erreichte, von wo die Treppen in entgegengesetzter Richtung weiter nach oben führten, bewegte sie sich besonders leise weiter.

Sie konnte die Stimmen ihrer Töchter nun lauter, aber immer noch undeutlich vernehmen. Es klang wie gespieltes Schmatzen und das verzückte »Mmmmh« von jemandem,
der ein Stück Kuchen isst. Das war es also. Eine PuppenTee-Party. Kein Wunder, dass sie so vertieft in ihr Spiel waren. Sie hatte es als Kind selbst gerne gespielt. Sie erinnerte sich gut, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte. Knuffige Gäste, pelzige Gäste, glänzende Gäste, hölzerne Gäste, die aßen und tranken, was ihnen serviert wurde, und ihrer Gastgeberin artig Komplimente machten.

So leise sie konnte, drehte sie den Türknauf, in der Erwartung, sie ein wenig beim Spielen beobachten zu können. Sie erhoffte sich einen Augenblick der Rückkehr zu kindlicher Unschuld und damit eine Abkehr von den Realitäten der Stadt und ihres Lebens mit Richard.

Ihr blieb ein Moment, ein recht langer Moment, das Spiel zu beobachten, bevor die Mädchen aus ihrer Versenkung aufschreckten und realisierten, dass sie da war und ihnen zusah. Es war tatsächlich eine Party. Alle Spielsachen waren eingeladen: der blinde, kahl werdende Bär, die Spielzeugsoldaten, verschiedene Puppen und sogar ein nach Chemikalien stinkender Gummiclown ― ein Spielzeug, mit dem sie nur selten spielten.

 

Die Spielsachen saßen um einen behelfsmäßigen Tisch aus einer umgedrehten Keksdose herum, über die sie eine weiße Serviette als Tischtuch gelegt hatten. Jeder Gast hatte ein vollständiges Gedeck inklusive klitzekleiner Messer und Gabeln, niedlicher Tellerchen und Fingerhutweingläsern vor sich stehen. Auf jedem Teller lag ein hohles Stück Puppe: ein Oberarm, ein Schenkel, eine Wade, ein Fuß, eine Hand. Der Torso war in vier Scheiben geschnitten wie ein Braten. Hema und Harsha »teilten« ihn sich.

Es war ihr Gespür für Details, das Maya erstaunte. Die Mädchen hatten die Puppe vorbereitet, bevor sie sie für ihre verehrten Gäste geschlachtet hatten. Sie hatten so viel von
ihrem Haar abgeschnitten, wie sie konnten. Maya konnte sehen, dass sie zwei Drittel eines jeden Fingers von den kleinen Händchen entfernt und ihre Daumen gekappt hatten. Auf den Tellern, auf denen Füße lagen, sah sie, dass der große Zeh entfernt war. Der rasierte Kopf lag an der Seite, aber an der ersten Bratenscheibe erkannte sie den Hals und die kleine Wunde in seiner Mitte, wo sie die Puppe vor der Schlachtung »ruhiggestellt« hatten.

»Hallo, Mama«, rief Harsha. »Möchtest du an unserer Party teilnehmen? Wir haben Fleisch für alle gemacht!«

 

Der Tag, an dem Magnus' Leute kamen, um John Collins zu holen, begann wie jeder andere Tag, seitdem er ins verfallene Viertel geflohen war.

Er brauchte keinen Wecker. Der Morgen war die wichtigste Zeit des Tages, und er konnte schon im Schlaf spüren, wenn er kam. Es war, als hätte das Licht eine Stimme. Die Stimme sang, und während er schlief konnte er ihre Sprache verstehen. Aber in dem Moment, in dem er erwachte, erinnerte er sich bloß noch an die frohlockenden, sehnsüchtigen Harmonien einer Million Stimmen, die wie eine sangen.

Oft bemerkte er als Erstes, dass er weinte. Manchmal war es das pure Glück, ein süßes Echo des Lichtgesangs. Meistens war es die Frustration darüber, dass er die Worte bei Bewusstsein nicht mehr verstand. An diesem Tag waren die Tränen das Andenken erhabener Melodien.

Das Appartement, in dem er lebte, war klein. Seit er Marie und die Jungs verlassen hatte, brauchte er keinen Platz mehr. Alles, was er brauchte, war Licht ― und einen Ort, an dem er dieses Licht morgens einfangen konnte. Er hatte eine kleine Tasche gepackt und war quer durch die Stadt bis ins verlassene Viertel gelaufen, wo sich jedermann ein
quartieren konnte, ohne einen Vertrag abzuschließen oder Miete zahlen zu müssen. Es gab dort kein Wasser, kein Gas und keinen Strom, was ihm nur recht war. Er erschien nicht mehr zur Arbeit im Gaswerk und erhielt danach weder Briefe noch Besuche von seinen Vorgesetzten. Schließlich war er längst nicht mehr erreichbar. Da Marie nicht wusste, wo er sich aufhielt, konnte sie auch nichts an ihn weiterleiten. Was ihm ebenfalls recht war. Je weniger sie mit ihm zu tun hatten, desto besser. Sie täten gut daran, ihn zu vergessen, und zu behaupten, dass sie ihn niemals gekannt hatten. Das kam in Abyrne durchaus vor. Es kam in Abyrne sogar ziemlich häufig vor. John Collins zu kennen, konnte unangenehm werden. John Collins zu sein, noch wesentlich unangenehmer.

Er sagte niemandem, wohin er ging. Er war so gut wie vom Erdboden verschluckt.

Nicht mehr zur Arbeit zu gehen, hatte sein Zeitgefühl seltsam verändert. Er wusste nicht mehr, welcher Tag gerade war. Weder Tag noch Stunde benennen zu können, dehnte die Zeit. Manchmal verstrich ein einzelner Nachmittag, und es kam ihm vor wie eine Woche. Oder er weigerte sich schlicht, überhaupt zu verstreichen. Ohne »sinnvolle« Beschäftigung beobachtete Collins die Zeit von seinem Balkon, blickte in den, sich im stetigen Wandel befindlichen, grauen Himmel und verlor sich in den vielfältigen Formen der dichten Wolken.

Nur zwei Dinge brachten so etwas wie einen Rhythmus in sein Leben: die einsetzende Dunkelheit und jene Ansprachen, mit denen er vor vielen Monaten in der Garage begonnen hatte.

Bruno und die Männer in den schwarzen Mänteln waren noch Stunden davon entfernt, ihn in die Ecke zu treiben, zu fesseln und zum Magnus-Anwesen im Park in der Nähe des
Stadtzentrums zu verschleppen. Obwohl er nichts davon ahnte, war er sich im Klaren darüber, dass es unvermeidlich war und jederzeit geschehen konnte.

Ohne sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, erhob er sich von der nackten Matratze und schwang die Füße auf den Boden. Die Sonne war noch weit hinter dem Horizont, aber er spürte das Licht wie ein schwaches Summen tief in seinem Kopf. Bis auf seinen Schal nackt ging er zum Balkon, schritt durch die längst glaslosen Schiebetüren und spreizte die Beine weiter als die Schultern. Er schloss die Augen, hob die Arme und schob die Handflächen nach vorne. Als würde er etwas sehr Großem Einhalt gebieten.

Er atmete tief und langsam. Beim bloßen Versprechen von Licht am Horizont entfaltete sich die Wärme in der Haut seiner Hände. Aber es würde noch eine Stunde oder länger dauern, bis die Sonne aufging. Trotzdem, die Welt war nicht mehr schwarz. Licht von weit hinterm Horizont sickerte in die Wolken. Während seine Intensität kaum spürbar zunahm, zog er es aus der Atmosphäre in seine Hände. Die Hitze breitete sich bis zu seinen Handgelenken aus. Als sich das Licht hinter dem Horizont versammelte, wurde das Summen in seinem Kopf, im Nukleus seines Gehirns, kräftiger.

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