Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
Ausnahmslos.
Selbst Prophet John Collins hier auf dem Teppich, so unbeugsam noch jetzt zu Beginn, würde es ihnen gleichtun.
Die Shantis hatte es seit der Schöpfung der Stadt gegeben. Aber durch das Studium, durch die Aufzeichnungen ihrer Geburten, Hochzeiten und ihres Ablebens, wurde ihr bald klar, dass sie kaum etwas finden würde, das sich auf Richard bezog. Sie verfolgte seine Blutlinie über sieben Generationen bis in die Gegenwart. Abgesehen vom Tod des Kindes Richard Shanti, hatte alles seine Richtigkeit. Aber wenn mit Richard Shantis Unterlagen irgendetwas nicht stimmte, wenn ihm der Status des Bürgers in Wahrheit nicht zustand, stand jeder ihm nachfolgenden Generation dieser Status ebenso wenig zu. Den wunderschönen Zwillingen ― Kinder, auf die jede Familie in der Stadt stolz wäre ― und selbst seiner Frau, da sie seinen Namen angenommen hatte, ihnen allen würde das gleiche Schicksal blühen wie ihm.
Sie stellte fest, dass sie sich so in die Mädchen vernarrt hatte, dass sie das nicht wollte. Maya Shanti jedoch war frei gewesen, sich zu entscheiden. Sie war nicht anders als viele der Frauen in der Stadt. Und Pastorin Mary Simonson konnte riechen, dass sie sich ihr gegenüber nicht aufrichtig verhalten hatte. Doch bloße Unaufrichtigkeit war kein hinreichender Grund, jemandem den Status zu entziehen. Ehegattin eines Mannes von nichtstädtischer Blutlinie zu sein, Betrüger an der Fürsorge und Schänder des Glaubens, das würde sie und ihre Töchter erledigen.
Für Richard Shanti hegte sie ein gewisses Maß an Respekt und Faszination. Er war ein Mann, dessen Arbeit die Stadt Abyrne am Leben erhielt. Er war eine MFP-Legende. Pastorin Mary Simonson war selbst nicht völlig frei von Mitleid für die Auserwählten: Wiewohl es ein göttliches Privi
leg war, sein Fleisch im Namen des Herrn zu geben, so realisierte sie doch, dass eben dies die Auserwählten leiden ließ. Männer wie Richard Shanti verstanden die Auserwählten wie niemand sonst. Deshalb verringerte er ihr Leiden, während er gleichzeitig für die hohen Produktionsraten sorgte, dank derer die Stadt ausreichend versorgt wurde. Sie hatte wahrhaftig keinerlei persönliches Interesse daran, diesem Mann einen derart fundamentalen Makel nachzuweisen.
Es war eine Angelegenheit religiöser Pflichterfüllung, die sie durchzustehen gedachte.
Rawlins brachte ihr ein Glas Milch. Obwohl sie gesehen hatte, wie er mit der gebührenden Umsicht den zentralen Gang des Archivs runtergekommen war, schwamm ein körniger Film grauer Schwebteilchen auf der Milch, als er bei ihr ankam. Sie bedankte sich trotzdem. Die Milch linderte ihre Bauchschmerzen für einen kurzen Moment. Sie hätte nach einem weiteren Glas gefragt, wenn ihr der Gedanke daran, es zu trinken, nicht schon eine solche Übelkeit bereitet hätte. Ganz gleich, was sie tat: Das Zittern ihrer Finger wirbelte den Staub von den alten Aktenkartons und Ordnern immer wieder auf.
Die Shanti-Dokumente reichten tatsächlich von der Schöpfung bis in die Gegenwart. Sie ging zu Richard Shantis Akte, überprüfte sein Geburtsjahr und die Eintragung bezüglich seines ― wenn auch nicht reellen ― Todes und begann, sie mit den Akten sämtlicher in diesem Jahr geborener Kinder abzugleichen. Ihr Plan war es, Rückschlüsse zu verwaisten Kindern zu ziehen und nach möglichen Vertauschungen Ausschau zu halten. Sie war sich inzwischen sicher, dass es sich ― sollte es eine Verfehlung geben ― eher darum handelte, dass jemand den Platz eines toten Kindes eingenommen hatte, als um einen fehlerhaften Eintrag. Der erwachsene Richard Shanti war das Kind von jemand
anderem, und er war von der Shanti-Familie aufgenommen worden.
Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wessen Kind er war.
»Hast du denn überhaupt keine Ahnung von Evolution, Collins? Ich dachte, du wärest gebildet.« Ein feuchter, schmatzender Zug an dem Stumpen. Ein Schluck klaren, duftenden Wodkas. »Nahrungsketten. Natürliche Selektion. Das Überleben des Stärkeren. Das ergibt alles einen Sinn, weißt du. Mehr als dieser religiöse Mist, den die Fürsorge verbreitet. Die stärkste, schlaueste Kreatur bildet die Spitze der Pyramide. Nimm doch nur diese Situation hier: Der Jäger erlegt seine Beute. Der Jäger verzehrt seine Beute. Der Jäger überlebt. Und die Blutlinie des schwächeren Tieres wird aus der Gleichung gestrichen. Das dürftest selbst du begreifen.«
Collins antwortete nicht. Er blickte Magnus in die Augen. Im Raum herrschte Stille, aber jeder der Männer hörte die Geräusche des Atmens im eigenen Kopf. Magnus' Atmen klang barsch und laut. Er war daran gewöhnt, und es erschien ihm normal. Bruno, im schwarzen Mantel, atmete flach und schnell, sein Adrenalinspiegel war hoch, die Ungeduld ließ seinen Herzschlag galoppieren. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er wollte Gewalt, wollte entlassen werden, wollte alles andere als diese Stille. Auch John Collins konnte den eigenen Atem hören. Das Geräusch schien fern, nicht wie Wellen am Strand, langsamer, fast wie die Gezeiten. Er kontrollierte es, und alles andere wurde ruhig.
Nach einigen Minuten begann Magnus zu lachen. Brunos angezogene Schultern fielen um ein oder zwei Zoll nach unten. Collins starrte weiter.
»Dein Problem ist, dass du immer noch denkst, du wärest mit mir auf Augenhöhe. Splitternackt und auf den Knien, glaubst du immer noch, dein Leben hätte einen Sinn. Ist es nicht so? Du bist fertig, Collins. Du weißt es vielleicht noch nicht, aber dein Leben ist jetzt und hier vorbei. Du bist von keinerlei Bedeutung mehr für diese Welt.«
Collins' Stimme erklang in einer perfekten Nanopause, als weder Magnus noch Bruno sich auf ihn konzentrierten. Sie ließ beide aufschrecken. Sein gelassener Tonfall gehörte nicht in diesen Raum. Magnus erholte sich zuerst von seinem Schrecken. Gerade noch rechtzeitig, um die Worte in ihrem vollen Umfang zu begreifen.
»Es ist nicht von Bedeutung für mich«, sagte Collins, »aber mein Leben ist von Bedeutung und wird es auch bleiben, lange, nachdem ich gestorben bin.« Er sah Magnus weiterhin an. »Du hingegen, obwohl man sich vielleicht als Abnormität an dich erinnert, bist längst nichts anderes mehr als ein wandelnder, sprechender Kadaver aus Fett und Fleisch.«
Magnus' Gesicht errötete, aber er hielt sich zurück und blieb ruhig. Er würde den Teufel tun und zulassen, dass einer dieser Männer sah, wie er aus der Fassung geriet. Statt zu brüllen, statt Collins' erbärmliche Eier in seiner Faust zu zerquetschen und seinen Zigarillo in die Augen des dürren Mannes zu drücken, rang er sich ein Kichern ab. Er trank den Wodka aus und drückte den Stumpen in den feuchten Bodensatz, wo die Glut zischend erstarb. Er stand auf, und seine ganze Größe wurde sichtbar. Er war ein Riese. Zwei Meter Muskeln und Masse. Er hatte eine Wampe, aber seine Brust war enorm, und seine Arme wölbten sich unter seinem Anzug. Seine Oberschenkel sahen aus wie Stämme kleiner Bäume, und sein Hals war so breit wie sein Kopf. Bruno fühlte die körperliche Bedrohung in Wellen auf ihn
zurollen und wollte instinktiv einen Schritt zurückweichen. Aber er blieb, wo er war.
Magnus schritt um seinen Schreibtisch herum an den Rand des Sockels, auf dem dieser stand. Um weiter Blickkontakt zu halten, musste Collins seinen Hals nach hinten strecken. Die Bewegung reichte aus, um Bruno reagieren zu lassen. Er drückte Collins' Kopf herunter, bis er den Boden vor dem Fleischbaron berührte.
»Du bist um einiges schwächer als ich«, sagte Collins in Richtung Teppich.
»Ich könnte dir mit einer Hand das Genick brechen«, erwiderte Magnus.
»Gefesselt, wie ich bin, könntest mit mir machen, was immer du willst. Jeder könnte das. Das sagt mir, dass du Angst hast. Da frage ich mich doch, warum, Magnus? Warum könnte ein Mann von deiner Statur wohl Angst vor einem dürren, kleinen Kerlchen wie mir haben? Weil du innerlich schwächelst. Dein Wille ist schwach. Dein Geist ist schwach.«
Bruno blickte betreten, beinahe geschockt, zur Seite ― voller Angst vor dem, was folgen würde.
»Du sprichst vom Überleben des Stärkeren, aber du könntest niemals einen Kampf gegen einen Mann wie mich gewinnen, Magnus. Du hast nicht verstanden, was wahre Stärke ausmacht. Sicher, ich bin ein einfacher Fang für deine Greiferbande. Gegen ihre Zahl vermag ich nichts auszurichten. Aber im Zweikampf hättest du nicht die geringste Chance gegen mich. Das weißt du genau, und eben deshalb knie ich nackt und gefesselt auf deinem Teppich, statt mit dir von Angesicht zu Angesicht, von Mann zu Mann, zu reden. Du hast Angst vor mir.«
Magnus war vollkommen klar, was Collins da versuchte. Er war eindeutig der Gewiefteste und Tapferste bisher. Viel
leicht aber auch einfach nur der Dümmste. Magnus überdachte seine Optionen. Er konnte Collins jetzt nach unten bringen und ihn in aller Ruhe fertigmachen: Stück für Stück. Oh, ja, er könnte seine Trumpfkarte ausspielen: Collins die Genitalien abschneiden und sie essen, während dieser zusah. Aber er wollte Collins deutlich machen, wer von ihnen der Stärkere war. Er wollte hören, wie Collins ihm seine Überlegenheit zugestand, bevor er ihn kaltmachte. Nein, es war nicht wirklich von Bedeutung, was Collins dachte, wenn er erst mal hinüber war. Und Magnus wusste, wer von ihnen beiden der Stärkere war. Auf Collins Eingeständnis konnte er verzichten. Aber Bruno war hier. Wenn Magnus die Dinge auf sich beruhen ließ, könnte Bruno das außerhalb des Büros erwähnen. Stärke war alles. Aber noch wichtiger als tatsächlich stark zu sein, war es, in dem Ruf zu stehen, stark und rücksichtslos zu sein. Wenn die Menschen da draußen vermuteten, er würde Leute damit davonkommen lassen, ihn zu beleidigen, wäre es der Anfang vom Ende.
Dies war eine einmalige Gelegenheit, all jenen, die glaubten, sie könnten seine Macht unterminieren, seine Überlegenheit zu demonstrieren. Er würde einige der anderen kommen lassen und Collins vor aller Augen demütigen, bevor er den Halunken nach unten in sein privates Schlachthaus schleppte. Dafür blieb noch reichlich Zeit.
»Du willst also mit mir kämpfen?«
Collins blieb stumm.
»Lass ihn los, Bruno.«
Erneut gab die schwere Hand seinen Nacken frei. Collins hob den Kopf und erwiderte Magnus' Starren mit festem Blick.
»Wenn ein sehr viel stärkerer Mann sich mit einem schwachen Mann prügelt, ist das kein Kampf«, sagte Collins, »sondern eine Hinrichtung.«
Magnus presste die Lippen zusammen. Er galt als ernsthafter Mann. Als einer, den so leicht nichts belustigte. Aber er kam nicht dagegen an.
Er kicherte. Er schnaufte. Er lachte.
Bruno fiel in sein Gelächter ein.
Das deplatzierte Lächeln auf Collins' Gesicht brachte ihn erst recht zum Lachen. Er brauchte einige Minuten, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Nach einigen letzten, ungläubigen Glucksern sagte er: »Du bist ein dreckiges Stück Scheiße, Collins. Und du wirst deine wohlverdiente Strafe bekommen. Sobald ich dieses dämliche Grinsen für immer aus deinem Gesicht gedroschen habe.« Er gluckste erneut. »Aber vorher möchte ich mit dir noch über einige Dinge reden. Nur deshalb bist du immer noch hier oben und nicht unten im Keller.«
9
»Was hast du den Städtern erzählt, Collins?«
Kein Zaudern.
»Die Wahrheit.«
Magnus schloss die Augen, um bis zehn zu zählen.
»Du verbesserst deine Situation nicht unbedingt, indem du das clevere Arschloch spielst. Was
genau
hast du ihnen erzählt?«
»Ich habe ihnen erzählt, dass sie kein Fleisch essen müssen, um zu überleben.«
Das war Magnus bekannt. Die Berichte über den Propheten John erreichten ihn seit Monaten. Anfangs hatte er sie nicht ernst genommen. Niemand konnte derartigen Blödsinn erzählen, ohne verlacht und blutend in der Gosse zu landen. Aber die Gerüchte und Geschichten dauerten an, und Magnus hatte seine Fühler ausgestreckt. Seine Leute kamen von ihren Erkundungsgängen zurück und erzählten ihm von den Treffen in der Garage; davon, wie sie von Woche zu Woche mehr Zulauf bekamen und schließlich davon, wie man sich in der Stadt erzählte, dass Fleisch, der Grundstock jeglichen Lebens, kein unentbehrlicher Bestandteil der Ernährung sei. Selbst da konnte Magnus noch nicht glauben, dass er es mit einem ernsthaften Problem zu tun hatte. Da gab es also einen Irren, der Schwachsinn darüber verbreitete, was die Leute essen und was sie nicht essen sollten. Na und? Niemand würde solch idiotischem Gewäsch Glauben schenken.
Aber genau das taten sie. In einer nicht mehr zu ignorierenden Zahl.
Zum ersten Mal in der MFP-Geschichte, in der Geschichte von Abyrne, war das Angebot an Fleisch höher als die Nachfrage. Ein Teil seiner Ware lag, quer über die Stadt verteilt, in den Metzgereien herum. Ein Teil seiner Ware wurde braun, grau und verdarb. So etwas hatte Magnus noch nie erlebt. Steaks, die hinter dem Tresen verfaulten, während überall in der Stadt die Armen Hunger litten. Was aßen diese Fleischverächter stattdessen? Das von den Bauern der Stadt angebaute Gemüse und Getreide war von minderer Qualität ― im Idealfall. Einige Leute zogen ihr eigenes Obst und Gemüse, wenn auch widerstrebend, zur Nahrungsergänzung. Und das auch nur, weil sie sich nicht jederzeit Fleisch leisten konnten. Fleisch gab ihnen Kraft für die Arbeit. Fleisch sorgte dafür, dass ihre Kinder überlebten, bis sie erwachsen waren. Sich Fleisch leisten zu können, begründete den Status der Menschen. Fleisch zu essen, hieß, selbst kein Fleisch zu sein. Hieß, über dem Vieh zu stehen. Die Städter aßen Fleisch, um menschlich zu bleiben. Dass jemand daherkam und ihnen erzählte, dass sie kein Fleisch bräuchten, dass es falsch war, es zu essen, war mit Abstand das Ungeheuerlichste und Anmaßendste, was Magnus je untergekommen war. Und es gab Städter, die schluckten diesen hanebüchenen Unsinn nicht weniger begeistert, als sie noch eine Woche zuvor Hack oder Gulasch geschluckt hatten.
John Collins war für all das verantwortlich. John Collins würde dafür bezahlen.
So unglaublich die Gerüchte auch zu sein schienen, sie stimmten. Spätestens, als die Bestellungen der Metzger und sonstigen Fleischverarbeiter zurückgingen, musste Magnus es einsehen. Um zu verhindern, dass die Arbeiter bei MFP
davon Wind bekamen, hielt er die Produktionsrate künstlich hoch und teilte seinen Managern mit, die Nachfrage würde steigen ― ganz so, wie sie es immer getan hatte. Dann schickte er nicht gekennzeichnete Transporter los, um das unverkäufliche Fleisch irgendwo in der Ödnis zu verklappen. Dort, wo niemand es sehen oder riechen konnte.