Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (28 page)

BOOK: Sebastian
2.89Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads
Lynnea mit einer Hand festhaltend, umfasste er mit der anderen den Stein. Im gleichen Moment, in dem die Spinne den Boden im Innern des Gartens erreichte, stand er auf und wandte sich vom Brunnen ab.
Er trat einen Schritt nach vorne und zog Lynnea mit sich.
Die Spinne rannte auf sie zu.
Er wusste nicht, wohin die Brücke sie führen würde, aber er vertraute auf Lee, dem einzigen Brückenbauer, der in
diesem
Garten eine Fluchtmöglichkeit versteckt haben konnte. Und er vertraute Glorianna Belladonna.
Während Gloriannas Name durch seinen Geist hallte, traten Lynnea und er noch einen Schritt nach vorn - und verschwanden in dem Augenblick, als die Spinne sie erreichte.
 
Wir sehen menschlich aus, aber wir sind es nicht. Ephemera hat uns geformt, uns geschaffen, uns als Antwort auf die Rufe der menschlichen Herzen nach Führung in die Welt gebracht.
Einige von uns haben sich an Orten gesammelt, an denen die Strömungen des Lichts am stärksten sind. Diese Wahrer werden dem ständigen Fluss der Worte der menschlichen Herzen fern bleiben, werden ein einfaches, friedvolles Leben führen, das dem Licht Nahrung sein und seine Strömungen in der Welt erhalten wird. Und im Gegenzug werden diese Strömungen Hoffnung, Mut und Liebe nähren.
Der Rest von uns sind Wächter. Wir wandeln unter den Menschen umher und fühlen, wie sie es tun - gleißende Momente des Glücks, warme Momente der Zufriedenheit, Momente erfüllt von den scharfen Scherben des Neides, des Zorns, der Enttäuschung. Wir trinken von den Quellen der Sorge und speisen am Bankett der Liebe.
Aber wir verstehen, was Ephemera nicht versteht: Dass das menschliche Herz so fließend ist, wie Ephemera selbst, dass ein Herz im Strom der Gefühle treibt, sich manchmal mit ihm zur Seite neigt, manchmal unter der Gewalt eines Sturmes zerbricht. Aber diese Gefühle sind nicht der Grundstein eines Herzens.
Und doch ist selbst ein Grundstein formbar. In einer kleinen Spalte kann ein Samenkorn Halt finden und in der Dunkelheit Wurzeln schlagen, während es dem Licht entgegen wächst. Gibt man ihm Zeit und Nahrung, können die Wurzeln der Pflanze den Spalt vergrößern, können stark genug werden, den Stein zu sprengen. Und die Dinge verändern sich.
Es ist also der Grundstein des Herzens, dessen Resonanz wir spüren, nicht der wechselhafte Wind der Gefühle. Was wir vernehmen, sind die wahren Wünsche und die tiefsten Sehnsüchte, es ist das das Bedürfnis des Herzens, die Reise seines Lebens fortzusetzen.
Lass Vorsicht walten bei deinen Wünschen, denn Ephemera wird diese Wünsche Gestalt annehmen lassen - aber nicht unbedingt so, wie du es dir dachtest … oder sogar wolltest.
Die Menschen hören die Worte, aber ihre Wünsche sind unstet wie der Wind - Dinge, die sie jetzt wollen, nach denen sie sich jetzt verzweifelt sehnen, nur um die gleichen Dinge am nächsten Tag wieder zu vergessen, denn sie erfüllen ihr Herz nicht wirklich.
So wandeln wir unter ihnen, spüren die Resonanz der tiefsten Wünsche, der wahren Träume des Herzens. Und wir flüstern Ephemera zu:
Höre nicht auf diesen Wunsch.
Es ist kein wahrer Wunsch.
Oder:
Ja, dies ist ein wahrer Wunsch. Verändere die Strömungen, die diesen Menschen umgeben, und gib ihm so die Gelegenheit, die ersten Schritte der Reise zu tun, die mit der Erfüllung seiner Herzenswünsche endet.
Einen Moment lang nimmt einer von uns die Resonanz des sehnsuchtsvollen Herzens auf, offenbart ihm die Möglichkeit und gewährt ihm die Chance, diese ersten Schritte zu gehen.
Einige Herzen werden vor der Reise zurückschrecken, zu ängstlich, das Vertraute hinter sich zu lassen, selbst wenn es langsam dahinschwindet. Andere werden nach vorne springen und sich nie wieder umsehen, und sie werden die Herzen anderer verletzen, die zurückgelassen wurden. Einige wird der Schmerz zwingen, die Reise zu beginnen. Für andere wird Liebe das Leuchtfeuer sein, das sie weiter vorantreibt.
Wir wandeln unter den Menschen umher, so wie auch die anderen. Wie wir vom Licht und den Gefühlen, welche die Resonanz des Lichts teilen, angezogen werden, so zieht es die anderen zur Dunkelheit, die in den Herzen der Menschen wohnt.
Sie nennen sie die Wächter der Dunkelheit.
Ephemera hat auch sie erschaffen, weil wir, die wir dem Licht folgen, die Resonanz der Herzen, die sich nach Dunkelheit sehnen, nicht aufnehmen konnten.
Solche Herzen wird es immer geben. Es wird immer eine Wahl geben. Entspräche dies nicht der Wahrheit, so hat ein Herz, das im Licht steht, gar keine Wahl getroffen.
 
- Das verlorene Archiv
Kapitel Elf
Einfache Wegmarkierungen aus Stein standen an der Mündung eines unbefestigten Pfades, der sich den Hügel hinabschlängelte. Einen Schritt hinter diesen Wegsteinen zog Sebastian Lynnea in seine Arme.
Er hielt Ausschau. Wartete.
Keine albtraumhaften Kreaturen erschienen zwischen den Steinen.
Er zitterte vor Erleichterung, als er die Augen schloss, seine Wange an Lynneas Kopf legte und ihr mit einer Hand über den Rücken strich, um ihr Trost zu spenden.
»Bist du in Ordnung?«, fragte er leise. »Du bist nicht verletzt?«
»Es geht mir gut, aber …« Lynnea drehte sich um, bis sie die Wegsteine sehen konnte. »Wo sind wir?«
»Ich weiß es nicht. In der Landschaft, die mit dem hier verbunden war.« Er öffnete die Hand und betrachtete das Stück glatten weißen Marmors, das darin lag.
Frieden hüllte ihn ein wie eine warme, weiche Decke. Mit jedem Atemzug schwand seine Angst.
Er konnte beinahe sehen, wie die Luft zwischen den Wegsteinen gleich einem Schleier schimmerte. Würde er ihn in die andere Richtung durchschreiten und die Landschaft betreten, die dahinter lag, wäre er der Angst schutzlos ausgeliefert, und die Welt hinter dem Schleier wäre erfüllt von Dingen, die einem den Mut rauben und alle Hoffnung vernichten würden. Aber hier …
Er ließ den weißen Marmor in seine Jackentasche gleiten
und sah Lynnea an. »Wir sollten wohl besser herausfinden, wo wir sind.«
Sie nickte, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Sie schien überwältigt von der friedlichen Atmosphäre dieses Ortes.
Sie sahen den Hügel hinab. Die Baumreihe, die zu ihrer Linken die Sicht versperrt hatte, endete hinter einer Kurve und gab den Blick auf einen kleinen See frei. Eine Hand voll winziger Inseln lag im See verstreut, und jede von ihnen war in Licht getaucht. Ein weiteres Licht entfernte sich stetig von einer der Inseln, und im letzten Schein des Tages sah er einen Mann über eine Brücke zurück zum Ufer gehen.
»Hey-a«, rief Sebastian den ländlichen Gruß, der in Nadias Heimatlandschaft alltäglich war. Selbst mit freundlicher Stimme vorgetragen, klang der laute Ton hier fehl am Platz - störend, fast schon anstößig -, aber der Mann hielt am Ufer an, hob eine Hand zum Gruß und folgte dem Pfad um den See herum, der auf den Weg traf, der den Hügel hinabführte.
»Willkommen, willkommen«, sagte er, als Sebastian und Lynnea am Fuße des Hügels ankamen. »Ich bin Yoshani, ebenfalls ein Besucher dieses Teils der Landschaft. Ihr habt das Abendmahl verpasst, aber in der Küche gibt es immer etwas für späte Reisende. Kommt. Wir werden euch im Gästehaus unterbringen, und dann könnt ihr euch umsehen, wo immer eure Herzen euch hinführen mögen.« Er drehte sich um und führte die beiden einen anderen Hügel hinauf. »Seit ihr weit gereist?«
»Auf gewisse Art und Weise ja«, antwortete Sebastian.
Yoshani nickte. »So geht es vielen, die den Weg in die Heiligen Stätten finden.«
Die Heiligen Stätten.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Ort jemals sehen würde«, sagte Sebastian mit tonloser Stimme.
Aber Lynnea hörte ihn und drückte seine Hand, um ihm zu zeigen, dass sie ihn verstand.
Dabei verstand sie gar nichts. Wie könnte sie auch? Sie war menschlich, und jemand wie sie hätte den Weg hierher jederzeit finden können.
Hatte sie aber nicht. Und als ihr Herz auf der Suche nach einem sicheren Ort war, hat sie den Pfuhl gefunden - und dich.
»In diesem Teil der Heiligen Stätten haben wir viele Besucher«, sagte Yoshani. »Sie kommen, um ihre Seele neue Kraft schöpfen zu lassen, damit sie gestärkt zu ihrer Reise durch die Welt zurückkehren können.«
»Es gibt noch andere Teile der Heiligen Stätten?«, fragte Lynnea.
»Ja. Es gibt viele Orte des Lichts auf dieser Welt, aber unsere Inseln lagen für sich allein im Meer der Welt, bis eine Landschafferin uns zusammengebracht hat und die Grenzlinien schuf, die diese Orte miteinander verbinden. Auch ihr Bruder, ein Brückenbauer, hat dabei geholfen, indem er Brücken zwischen unseren Landschaften schlug, so dass wir die anderen Hüter des Lichts besuchen können. So lernen wir, sie besser zu verstehen.« Yoshani hob eine Hand zum Gruß. »Und da sind wir auch schon.«
Auf der Spitze des Hügels stand ein dreistöckiges Gebäude aus Stein. Ein Mann trat aus der Tür ins Licht der Laternen, die am Eingang hingen.
»Hey-a, Lee!«, sagte Yoshani. »Wir haben Besuch.«
In diesem Moment vergaß Sebastian alles, bis auf diesen einen Gedanken. Sein Verstand und sein Herz waren von einem einzigen Bild erfüllt - einer Messingtafel mit dem Siegel der Zauberer … und einem Datum, das ihm ein Geheimnis offenbart hatte.
Er schüttelte die Decke des Friedens ab und lief auf die vertraute Gestalt zu, deren Mundwinkel sich zu einem freudig überraschten Lächeln hoben.
»Sebastian!«, sagte Lee. »Was bringt dich -«
Der Stoß ließ Lee einen Schritt zurücktaumeln. Dann packte Sebastian Lee am Hemd und zog ihn mit geballten Fäusten zu sich heran.
»Du hast es mir nie gesagt«, knurrte Sebastian. »Ich hatte das Recht, es zu wissen, und
du hast es mir nie gesagt.«
Leere trat in Lees Augen, um zu zeigen, dass er nicht wusste, worüber Sebastian sprach. Aber kein Erstaunen über seinen Zorn. Und keine Entschuldigung.
»Hey-a, hey!«, sagte Yoshani. »Wirf deine Probleme nicht auf den Boden, so dass andere Leute darüber stolpern. Nicht hier in den Heiligen Stätten.«
Sebastian spürte, wie Schamesröte sein Gesicht überzog - genauso hatte er sich als kleiner Junge immer gefühlt, wenn er etwas getan hatte, das ihm ganz natürlich erschien, für alle anderen aber unmögliches Verhalten war.
Er öffnete seine Fäuste und ließ Lees Hemd los.
Yoshani musterte ihn und schüttelte dann den Kopf. »Tsk. Hier. Nimm die Laterne. Geh hinunter zu den Inseln und sprich deine zornigen Worte, wenn du musst. Lass sie vom Wasser davontragen. Ich werde mich solange um die Vernünftige von euch beiden kümmern«, fügte er hinzu und deutete mit einer anmutigen Handbewegung auf Lynnea.
Sebastian trat einen Schritt zurück. »Nein, es ist -«
»Ja«, sagte Lee. Er nahm Yoshani die Lampe ab. »Es ist an der Zeit, dass diese Dinge ausgesprochen werden.«
Sebastian folgte Lee den Hügel hinab zum See. Sie überquerten eine Brücke auf die erste Insel, auf der eine steinerne Bank und ein Felsen standen, dessen Höhlung eine weitere Laterne barg.
Lee schwang ein Bein über das eine Ende der Bank und setzte sich, Sebastian tat es ihm gleich und ließ sich rittlings auf dem gegenüberliegenden Ende der Bank nieder.
Auf einer der anderen Inseln brachte ein Lufthauch Windspiele zum klingen, und die klaren Töne vermischten sich mit dem Rascheln der Blätter und dem schläfrigen Plätschern des Wassers, das an den Ufern der Inseln leckte.
Sebastian schloss die Augen. Die Geräusche trugen ihn fort, drängten ihn, seinen Ärger loszulassen und sich wieder in die Decke des Friedens zu hüllen.
Dann bewegte Lee sich, als er die Laterne beiseite stellte. Das leise Geräusch störte den Klang der Blätter, der Windspiele und des Wassers nicht, aber es reichte aus, um Sebastian seinen Zorn wieder in Erinnerung zu rufen - und diesmal hielt er ihn fest.
»Ich habe die Tafel an Gloriannas Garten gesehen«, sagte Sebastian. »Ich habe das Datum gesehen. Es war kurz nachdem sie den Pfuhl erschaffen hatte, habe ich recht?
Habe ich recht?
«
»Was wäre wenn?«, entgegnete Lee.
»Verdammt, Lee!
Sie war fünfzehn Jahre alt und wurde aus der Gemeinschaft verstoßen, weil sie den Pfuhl erschaffen hatte!«
»Nein, sie wurde ausgestoßen, weil sie entkommen ist, als man sie in ihrem Garten einschließen wollte, und als die Zauberer und die Lehrer das bemerkten, war sie bereits in den Landschaften verschwunden.«
Sebastian nickte mit dem Kopf. Nicht, um zuzustimmen, sondern nur um zu zeigen, dass er verstanden hatte. »Also bestand das Verbrechen, das schwer genug war, um eingeschlossen zu werden, darin, dass sie einen Ort erschaffen hat, der den Namen Sündenpfuhl trägt. Für mich.«
»Du bist nicht der Einzige, der im Pfuhl lebt«, entgegnete Lee.
»Aber ich war der Grund, aus dem sie ihn erschaffen hat. Sie hat diesen Ort ins Leben gerufen, damit ich ein Zuhause habe.«
»Ob das stimmt oder nicht, spielt keine Rolle«, sagte Lee mit scharfer Stimme. »Sie haben nie von dir gewusst. Die Lehrer haben nie gefragt, warum sie den Pfuhl erschaffen hat, und Glorianna hat es ihnen nie erzählt. Ich bezweifle, dass heute jemand von ihnen weiß, warum sie die Landschaften verändert hat, um den Pfuhl zu schaffen.«
BOOK: Sebastian
2.89Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Other books

Sliding Void by Hunt, Stephen
Crushed by Amity Hope
Camp by Elaine Wolf
Force of Nature by Suzanne Brockmann
East, West by Salman Rushdie
No Heroes by Chris Offutt
My Name Is Mina by Almond, David