Als sich Sam um 8.25 Uhr wieder meldete, versuchte Belli mehr über den Mann zu erfahren.
»Wissen Sie, ich will nicht in die Gaskammer«, antwortete der Anrufer. »Ich habe so furchtbare Kopfschmerzen. Wenn ich töte, ist es besser.«
»Es ist seit vielen Jahren niemand mehr in die Gaskammer gekommen«, erwiderte Belli. »Sie wollen doch leben, nicht wahr? Nun, ich sage Ihnen, wie Sie es anstellen können. Wie lange haben Sie Ihre Kopfschmerzen schon?«
»Seit ich damals ein Kind getötet habe«, antwortete Sam.
»Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?«
»Ja.«
»Haben Sie Ohnmachtsanfälle?«
»Ja.«
»Auch andere Anfälle?«
»Nein, nur Kopfschmerzen.«
»Nehmen Sie Aspirin?«
»Ja.«
»Hilft es Ihnen?«
»Nein.«
»Haben Sie schon mal versucht, anzurufen, als Mr. Bailey vor zwei, drei Wochen hier in der Sendung war?«, fragte Dunbar.
»Ja.«
»Warum wollten Sie mit Bailey sprechen?«
»Wann wollen Sie mit mir sprechen?«, warf Belli ein.
»Ich weiß nicht, ob ich das riskieren soll«, erwiderte Sam.
»Glauben Sie mir, es hilft Ihnen, wenn Sie mit mir sprechen.«
»Sie müssen nicht in die Gaskammer«, versicherte Dunbar.
»Ich glaube nicht, dass sie die Todesstrafe verlangen würden«, pflichtete ihm Belli bei. »Wir sollten mit dem Staatsanwalt sprechen - wollen Sie, dass ich das mache, Sam? Soll ich mit dem Staatsanwalt sprechen?«, fragte Belli.
Statt einer Antwort kam ein kurzer Aufschrei.
»Wie bitte?«
»Ich habe nichts gesagt. Das waren nur meine Kopfschmerzen«, antwortete Sam.
»Das klingt, als hätten Sie wirklich große Schmerzen«, stellte Belli fest. »Ich glaube, Sie brauchen dringend Hilfe.«
»Ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Es ist wieder so eine Attacke.«
Es folgte ein weiterer kurzer Aufschrei, dann war Stille.
»Ich werde sie alle umbringen! Ich werde diese verdammten jungen Leute umbringen!«, schrie Sam und legte auf.
Als er das nächste Mal anrief, ließ Belli den Anruf auf seine Privatleitung schalten, sodass ihn die Zuseher nicht hören konnten. »Soll ich Sie als Anwalt vertreten? Ich sehe doch, dass da auch Gutes in Ihnen steckt. Möchten Sie mir irgendetwas sagen?«
»Nein, nichts.«
»Sie haben das Gefühl, dass Sie gleich ausflippen? Sam, was sollen wir für Sie tun?«
»Ich fühle mich so furchtbar einsam.«
»Brauchen Sie vielleicht ein Medikament? Möchten Sie nicht endlich diese verdammten Kopfschmerzen loswerden?« Belli fügte hinzu, er würde versuchen, von Staatsanwalt John J. Ferdon das Versprechen zu bekommen, dass Zodiac nicht in die Gaskammer müsse, wenn er wegen Mordes verurteilt würde.
Statt des Fairmont Hotels schlug Belli die Stufen der Old St. Mary’s Church in Chinatown als Treffpunkt vor. Sam nannte jedoch einen anderen Ort seiner Wahl: Daly City, vor dem Secondhandladen St. Vincent de Paul in der Mission Street, und zwar noch an diesem Vormittag um halb elf Uhr.
»Passen Sie gut auf sich auf«, sagte Belli.
»Ja«, antwortete Sam.
Es war wahrscheinlich eines der am wenigsten geheimen Geheimtreffen, die jemals vereinbart wurden. Natürlich kam auch die Polizei zu dem Treffpunkt, die auf der Privatleitung mitgehört hatte. Ihnen wiederum folgten die Kamerateams der Fernsehsender, Reporter und Fotografen. Nur Jim Dunbar ging nicht hin, nachdem ihn der ganze Zirkus zu nerven begann. Und natürlich Zodiac - falls er es tatsächlich war -, der es ebenfalls vorzog, nicht zu dem Treffen zu erscheinen.
Nach einer Dreiviertelstunde gab Belli auf und ging nach Hause, um ein wenig zu schlafen.
Sam hatte absolut nichts von sich gegeben, was der Polizei geholfen hätte, ihn zu fassen. Andererseits hatte er auch nichts gesagt, was bewiesen hätte, dass er tatsächlich der gesuchte Mörder war. Wenigstens war die Stimme des mysteriösen Anrufers aufgenommen worden.
Der Polizist aus Oakland, der den Anruf um zwei Uhr nachts erhalten hatte, gab an, dass er sicher sei, mit dem echten Zodiac gesprochen zu haben, und dass er nicht glaube, im Fernsehen dieselbe Stimme gehört zu haben.
Unterdessen kamen drei der vier lebenden Personen, die die Stimme des Zodiac-Mörders gehört hatten, in einem kleinen Raum von KGO-TV zusammen, um sich die Aufzeichnung von Sams Gespräch mit Belli anzuhören. Die drei waren David Slaight, Streifenpolizist aus Napa, Nancy Slover vom Police Department Vallejo und Bryan Hartnell. Fast eine Stunde lang hörten sie zu, während man ihnen Sams Stimme wieder und wieder vorspielte. Dann überlegten sie eine ganze Weile schweigend.
Es war Bryan, der als Erster sprach. »Ich glaube, die Stimme hier klingt nicht so tief und so alt wie die von Zodiac.« Die anderen zuckten die Achseln und schüttelten zustimmend den Kopf.
»Er klingt zu jung«, meinte auch der dunkelhaarige Streifenpolizist Slaight, »und nicht so selbstsicher.«
»Nein, so Mitleid erregend klang der Zodiac nicht«, pflichtete Nancy Slover ihm bei.
Es war offensichtlich, dass der Anrufer in der Fernsehsendung jemand war, der die Gelegenheit genutzt hatte, um in der »Zodiac-Gala« im Fernsehen in Erscheinung zu treten.
»Da wir aber immer noch keine Ahnung haben, wer der Mörder ist, müssen wir jeder Spur nachgehen«, stellte ein Ermittlungsbeamter fest, »auch wenn wir es dabei mit irgendwelchen Spinnern zu tun bekommen.«
Das Rätsel um Sam konnte schließlich gelöst werden, als einer der folgenden Anrufe des Mannes bei Belli zurückverfolgt werden konnte; es stellte sich heraus, dass der Anrufer ein psychisch gestörter Patient des Napa State Hospital war.
KRON-TV
rief kurz vor dem Redaktionsschluss der Abendnachrichten im Presseraum der Hall of Justice an, um dem Gerücht nachzugehen, Zodiac wäre von der Polizei festgenommen worden, nachdem er verspätet beim vereinbarten Treffpunkt in Daly City aufgetaucht wäre. Es hieß, die Polizei wolle seine Festnahme geheim halten, bis man sicher sei, dass es sich um den gesuchten Serienkiller handelte. Die Geschichte stellte sich als bloßes Gerücht heraus, das jedoch für einige Aufregung sorgte.
Ungefähr zur gleichen Zeit kamen beim
Chronicle
Anrufe von Lesern herein, die einen Zusammenhang zwischen Zodiac und dem Dick-Tracy-Comicstrip aus der Zeitung sahen. Am 17. August, also wenige Wochen nachdem sich der Mörder erstmals unter dem Namen »Zodiac« gemeldet hatte, trat in der Comicserie die so genannte Zodiac-Bande in Erscheinung, eine Gruppe von Killern mit Astrologie-Tick, die von einem wahnwitzigen Schurken namens Scorpio angeführt wurde. Die Bande brachte einen Astrologie-Kolumnisten um die Ecke, indem sie ihn ertränkte, und Tracy fand Manschettenknöpfe mit einem Skorpion und einem Horoskop an seinem Hemd. Agenten des CI&I hofften, dass irgendwo in dem Comic eine Parallele zwischen den Zodiac-Killern aus der Serie und dem echten Zodiac auftauchen würde. »Im Moment ist das alles reine Spekulation«, meinte Earl Bauer, der verantwortliche Analytiker im kriminaltechnischen Labor des CI&I. »Wir sind da noch keinen Schritt weiter. Es ist einfach nur eine von vielen möglichen Spuren, die wahrscheinlich nirgendwohin führen wird, aber man muss sie trotzdem im Auge behalten.«
Dick Tracy wurde mehrere Wochen vor dem Erscheinen geschrieben und gezeichnet, um ein entsprechendes Korrekturlesen zu ermöglichen. Die Zodiac-Geschichte im Tracy-Comic erschien erst, nachdem der Killer seinen Namen gewählt hatte, also konnte ihn die Serie unmöglich dazu inspiriert haben - es sei denn, Zodiac war jemand, der bei einer Zeitung arbeitete.
Montag, 10. November 1969
Armstrong und Toschi wurden verständigt, dass der
Chronicle
zwei weitere Briefe von Zodiac erhalten hatte, die beide den Poststempel von San Francisco trugen. Nachdem der Mörder, wie schon zuvor, bemüht war, sich nicht aufgrund seiner Handschrift aufspüren zu lassen, hatte er auch diesmal in sauberen kleinen Druckbuchstaben geschrieben. Es gab jedoch keinen Zweifel an der Echtheit der Briefe, da auch diesmal ein Stück von Stines grauweißem Hemd beigelegt war.
Die Umschläge waren auch diesmal an den
Chronicle
adressiert und mit der Aufforderung »Please Rush to Editor« versehen. Sie waren am Samstag, dem 8. November, und am Sonntag, dem 9. November, aufgegeben worden.
In seinen neuen Briefen prahlte Zodiac mit zwei weiteren Morden; er schrieb von sieben anstatt der fünf bekannten Verbrechen.
Soweit Toschi wusste, hatte es in letzter Zeit tatsächlich zwei Mordfälle in der Bay Area gegeben, die noch ungelöst waren. Am 3. August brachen zwei junge Mädchen, Klassenkameradinnen aus San Jose, zu einem Picknick auf einem der Hügel im Alameda Valley auf. Deborah Gay Furlong (14) und Kathy Snoozy (15) sperrten ihre Fahrräder an einen Zaun am Fuße des Hügels und stiegen zu einer sonnigen Anhöhe hinauf, von wo sie auf ihre Häuser hinunterblicken konnten. Als sie um sechs Uhr noch nicht wieder zurück waren, brach der Vater des jüngeren Mädchens auf, um nach den beiden zu suchen. Als er zu der Stelle kam, an der sie sich zu ihrem Picknick niedergelassen hatten, sah er eine große Menschenmenge und Polizisten dort stehen. Erschrocken lief er zu dem Wäldchen hinüber und sah die beiden Mädchen tot am Boden liegen. Bis auf eine Sandale, die in der Nähe gefunden wurde, waren sie vollständig bekleidet. Die Polizei vermutete, dass die beiden nicht hier ermordet worden waren, weil nur wenig Blut zu sehen war. Im schwachen Licht der Abenddämmerung wurden zwischen den Eichen Fußspuren entdeckt, von denen die Polizei Gipsabdrücke anfertigte.
Dr. John E. Hauser, der Gerichtsmediziner von Santa Clara County, war so erschüttert von dem Verbrechen, dass er kaum sprechen konnte.
»Ich habe noch nie einen Fall mit so vielen Messerstichen erlebt«, berichtete er. »Wissen Sie, ich bin schon lange in diesem Geschäft, und manchmal komme ich mir schon ziemlich abgebrüht vor, aber als ich diese beiden Mädchen sah … das war furchtbar.«
Der Täter musste die beiden Opfer in einem wahren Blutrausch ermordet haben, indem er über dreihundert Mal mit seinem schmalen Messer auf sie eingestochen hat, und immer oberhalb der Taille.
Toschi hatte bereits befürchtet, dass Zodiac seine Drohung, sich nun Schulkinder als Opfer zu suchen, wahr machen würde.
Nach diesen beiden Morden schlossen sich in San Jose 475 aufgebrachte Eltern zu einer Bürgerwehr zusammen, um auf eigene Faust nach dem Mörder zu suchen. Sie streiften mit Autos durch die Gegend, die sie mit weißen Flaggen markiert hatten. Alle beteiligten Männer waren bewaffnet. Es wurde vermutet, dass ein groß gewachsener, dünner Teenager der Mörder sei und dass der Betreffende hier in der Gegend lebte, da er nach den Morden so rasch hatte verschwinden können. Es sollte aber fast zwei Jahre dauern, bis der Mörder der beiden Mädchen gefasst werden konnte.
Toschi war kein anderer Mordfall in der Gegend bekannt, abgesehen von einem Säugling, der vermutlich von Hunden getötet worden war. Die Ermittlungsbeamten wandten ihre Aufmerksamkeit dem Zodiac-Brief vom 8. November zu. Er war zwar, wie gewohnt, überfrankiert, doch die Briefmarken waren in diesem Fall nicht übereinander, sondern nebeneinander aufgeklebt.
Der Umschlag enthielt eine Grußkarte. Auf der Vorderseite der Karte (die hier zum ersten Mal abgedruckt ist) war ein tropfnasser Füllfederhalter an einer Schnur zu sehen, und darunter stand:
Tut mir Leid,
dass ich so lange nicht geschrieben habe,
aber ich habe gerade
meinen Füller gewaschen …
Innen folgte dann die Pointe, die in klecksiger, wirrer Schrift geschrieben war:
und jetzt kann ich nicht mehr viel damit anfangen!
Der Zodiac hatte in eigener Handschrift hinzugefügt:
Hier spricht der Zodiac
Ich dachte mir, ihr braucht vielleicht
etwas Heiteres, bevor ich euch die
schlechte Nachricht mitteile
aber dazu komme ich später
PS könnt ihr diesen neuen Geheimtext
auf der Titelseite abdrucken?
Ich fühle mich so schrecklich einsam,
wenn ich ignoriert werde,
so einsam, dass ich vielleicht schon
bald wieder etwas dagegen tun muss!!!!!!
Ganz unten auf der Grußkarte waren fünf Monate abgekürzt aufgelistet: »Des July Aug Sept Oct = 7«. Es waren die Monate, in denen der Killer zugeschlagen hatte - nur der Monat August stellte die Polizei vor ein Rätsel. Anscheinend wollte Zodiac andeuten, dass er im August zwei Menschen getötet hatte. Der einzige ungeklärte Mordfall im August betraf die beiden jungen Mädchen.
Sofort begann die Polizei, in den Schreibwarenläden, in denen Grußkarten verkauft wurden, nachzufragen, ob sich ein Verkäufer daran erinnern konnte, die Karte verkauft zu haben, die Zodiac abgeschickt hatte. Allein in San Francisco waren mittlerweile fünfzig Officers und zehn Inspektoren ausschließlich mit dem Zodiac-Fall befasst.
Im Inneren der Karte hatte der Mörder seinen bisher komplexesten Geheimtext verfasst. Er bestand aus 340 Zeichen, in zwanzig Zeilen angeordnet, und war mit seinem persönlichen Symbol signiert, einem großen Kreis mit Kreuz. Toschi ließ den Text kopieren und schickte ihn an die National Security Agency und die CIA nach Washington. Die NSA meinte, dass der verschlüsselte Text eindeutig eine Botschaft enthielt.
Armstrong und Toschi hofften, dass erneut Amateur-Codeknacker Erfolg haben würden, wenn der
Chronicle
den chiffrierten Text abdruckte. »Es ist alles eine Frage der Geduld, bis sich ein Stein zum anderen fügt«, meinte ein Entschlüsselungsexperte. »Man probiert verschiedene Möglichkeiten durch, bis es irgendwann klappt.« Ein Sprachwissenschaftler an der Massachusetts University ließ den Geheimtext wieder und wieder durch einen Computer laufen, ohne jedoch ans Ziel zu kommen.
Der
Examiner
druckte sogar eine Herausforderung an den Zodiac ab, die von Dr. Marsh von der American Cryptogram Association stammte. Dr. Marsh teilte der Zeitung mit, dass der Mörder es entgegen seiner Behauptung nicht wagen würde, seinen richtigen Namen in einem Geheimtext zu verschlüsseln. »Er weiß«, so Dr. Marsh, »dass, um mit Edgar Allen Poe zu sprechen, jede Geheimschrift, die von Menschen ersonnen wurde, auch von Menschen entschlüsselt werden kann.« Dr. Marsh ließ eine Nachricht an den Zodiac abdrucken, die in dessen eigener Chiffre verfasst war, und forderte ihn auf, seinen richtigen Namen in verschlüsselter Form an die ACA zu senden.