Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
Magnus würde diesen Ignoranten beweisen, aus welchem Holz er geschnitzt war.
Sein massiger Körper wurde von Heulkrämpfen geschüttelt ― bittere Tränen der Qual und Frustration wuschen das Blut von seiner Stirn ―, während er jammerte und um Hilfe flehte, die niemals kommen würde.
Collins gab Staith und Vigors ein Zeichen.
»Bringt diese Männer ins Haus.«
Sie trieben die entkräfteten Wachen durch die Eingangstür.
»Halt«, sagte Collins zu Bruno, »du nicht.«
Bruno drehte sich um, und Collins ging ihm entgegen.
»Bring mich zu Shanti.«
Das Licht schmerzte ihm in den Augen und zwang ihn, sie geschlossen zu halten. Magnus und seine Männer waren gekommen, um ihn zu holen, und seine letzte Prüfung,
was immer sie auch für ihn vorgesehen hatten, stand kurz bevor.
Die Hand, die ihm in der Zelle entgegengestreckt wurde und ihn hochzog, war kräftig und voller Wärme. Bereits ihre bloße Berührung war ein Versprechen von Sicherheit und Geborgenheit. Diese Hand gehörte John Collins.
»Puh. Du könntest eine Dusche gebrauchen. Schließlich wollen wir doch nicht, dass deine Töchter ihren Vater in diesem Zustand sehen, oder?«
»Ihr habt meine Zwillinge gefunden. Sind sie ...?« »Davon kannst du dich selbst überzeugen, sobald wir dich von diesem Dreck befreit haben.«
Ohne Strom war der Hochdruckreiniger nicht schlimmer als ein Gartenschlauch. Während Collins die Düse hielt, entkleidete sich Shanti und wusch sich mit raschen, energischen Bewegungen.
»Zieh das hier an«, sagte Collins. »Es entspricht zwar nicht so ganz deinem Typ, aber fürs Erste sollte es reichen.«
Er reichte Shanti die Kleider und Stiefel einer toten Wache. Eingedenk der Tatsache, dass er nicht wirklich die Wahl hatte, schlüpfte Richard Shanti ohne zu zögern in die Kleider. Mit dem schwarzen Mantel und seinem langen Haar und Bart sah er nun genau aus, wie einer von Magnus' Männern.
»Habt ihr meine Frau gefunden?«
Shanti sah, dass Collins gerne mehr oder zumindest etwas anderes als die Wahrheit gesagt hätte. Letztendlich waren seine Worte so schlicht, wie sie deutlich waren.
»Sie ist tot, Richard. Es tut mir leid.«
Shanti presste die rechte Handfläche vor den Mund. Weniger entsetzt, vielmehr als habe er ein zu Urteil fällen.
»Sie haben sie draußen verscharrt. Wenn du willst, kann ich dir zeigen, wo. Aber wir müssen uns beeilen.«
Shanti blickte auf.
»Nein«, sagte er. »Das ist nicht notwendig.«
Collins führte ihn aus dem Keller und hinauf ins Erdgeschoss. Hema und Harsha warteten in Magnus' Wohnzimmer. Als sie ihn erblickten, rannten sie ihm entgegen. Er kniete sich hin und nahm sie in die Arme, küsste ihre Köpfe und streichelte ihr Haar. Er fand nicht die Worte, sie zu fragen, was Magnus ihnen angetan hatte. Als er die Sprache wieder gefunden hatte, fragte er: »Hat er euch wehgetan?«
Sie schüttelten den Kopf und brachen in Tränen aus. Collins legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Es tut mir leid, Richard. Wir müssen gehen. Wir alle. Wenn die Städter mitbekommen, dass es keinen Fleischbaron mehr gibt, wird eine Panik ausbrechen. Sie werden losziehen, um die Auserwählten eigenhändig zu töten. Dann ist das Chaos unvermeidlich. Die Pastoren werden sie nicht aufhalten können, und auch für uns sind es zu viele, um mit ihnen fertig zu werden. Wenn wir etwas unternehmen wollen, müssen wir es jetzt sofort tun.«
Shanti nickte und stand auf.
»Wir werden alle zusammen einen langen Spaziergang machen«, sagte er zu seinen Töchtern. »Weil wir schneller sind, werden Mr. Collins und ich vorausgehen.« Er wies auf die Gefährten, die bei den Mädchen gesessen hatten. »Bei ihnen seid ihr in Sicherheit, bis ihr uns eingeholt habt. Macht genau das, was sie euch sagen. Habt ihr verstanden?«
»Aber wir wollen mit dir kommen, Papa«, sagte Hema.
»Ich weiß, meine Süße. Ich werde auf euch warten. Versprochen.«
Er bückte sich, küsste noch einmal beide und drehte sich herum. Er wollte nicht, dass sie sahen, wie es ihm das Herz brach. Sie wiederzubekommen und sofort wieder zurücklassen zu müssen, war mehr, als er ertragen konnte.
In der Halle sagte er zu Collins: »Hier gibt es doch sicher noch einen Lastwagen, in dem noch etwas Treibstoff ist?« Collins schüttelte den Kopf.
»Sie haben alles Gas verbraucht. Selbst wenn sie noch irgendwo etwas gehortet haben, würde es zu viel Zeit kosten, um danach zu suchen. Sollten die Städter hier sein, bevor wir es gefunden haben ... nun ...«
Er fuhr sich mit dem Zeigefinger die Kehle entlang.
»Du hast Recht. Wir sollten gehen. Lauf mit mir.«
Gemeinsam sprinteten sie durch die Haustür. Shanti stoppte, als er Magnus erblickte, der immer noch versuchte, sich von den Zaunpfosten zu befreien, die seine Beine aufgespießt hatten. Sein Gewicht hatte seine Knie brechen lassen, und er hing nun nicht mehr angewinkelt, sondern senkrecht mit dem Kopf nach unten von den Pfählen herab. Er weinte hysterische, ungläubige Tränen. Shanti ging herüber und stellte sich neben ihn. Er hatte sein Leben lang in einem Milieu des Schmerzes gearbeitet und ein feines Gefühl dafür entwickelt. Er konnte die Wellen der Qual spüren, die von dem hängenden Riesen neben ihm ausströmten. Er blickte an dem Mann herab, dem Ströme von Blut und Tränen über die Stirn ins Haar liefen, und sah ihm in die Augen. Das Weiß hatte sich gelb verfärbt und war von aufgeplatzten Kapillaren durchzogen. Der blanke Wahnsinn sprach aus ihnen.
»Habt Mitleid, Eispickel. Ihr seid ein Mann des Mitge fühls. Das habe ich nun endlich begriffen. Befreit mich. Ich bitte euch. Legt mich hier auf den Boden und lasst mich in Frieden sterben. Tut das Richtige, Mr. Shanti, bitte. Helft mir herunter.« Der große Mann schluchzte und bebte, er war unfähig, die Tränen zurückzuhalten. »Holt mich hier runter, runter, runter«, flehte er. Und dann: »Vergebt mir, Eispickel. Vergebt mir.«
Shanti blickte Magnus noch ein paar Sekunden in die irren Augen. Der erkannte sein Zögern und hinter seinen starrenden Pupillen flackerte ein Funken Hoffnung auf.
»Das werde ich«, sagte Shanti.
Er wendete sich ab.
Collins und er rannten die Schotterzufahrt herab. Zwanzig Gefährten fielen in ihren Schritt ein und folgten ihnen. Der Rest der Gruppe verließ das Anwesen in zügigem Marschtempo und eskortierte die Zwillinge. Die verbleibenden Wachen und die Dienstmädchen hatten sie im Keller des Hauses eingeschlossen. Collins und Shanti war bewusst, dass Magnus' Leute womöglich einen Weg finden würden, sich zu befreien. Aber wenn es so weit war, würde das auch nichts mehr ändern.
Am Eingangstor zum Anwesen bogen sie nach rechts auf die Hauptstraße ab, die aus Abyrne heraus führte. Als der Klang der rennenden und marschierenden Stiefel auf dem brüchigen Asphalt verklungen war, fiel die Stadt in eine ungewöhnliche Stille. Doch jeder von ihnen spürte, dass sich hinter ihnen etwas Übles zusammenbraute.
Der Großbischof saß hinter seinem Schreibtisch und taxierte die drei Pastoren, die vor ihm Aufstellung bezogen hatten. Sie wirkten wie drei Schuljungen im Arbeitszimmer des Direktors: nervös und besorgt. Und es lag noch etwas anderes in der Luft:
Angst.
Nicht die Angst vor Züchtigung. Nicht die Angst, ihre Jobs zu verlieren. Nicht einmal ― obwohl es durchaus eine diesem Moment angemessene Regung gewesen wäre ― die Angst vor Gott. Schon deshalb wusste er, dass sie nicht bloß in Erwartung seiner Reaktion auf die Neuigkeiten, die sie überbrachten, derart angespannt waren.
Pastor Atwell hatte ihre Aufklärungsmission angeführt, weshalb der Großbischof seine Fragen an ihn richtete. »Was habt ihr gefunden?«
»Nichts, Eure Eminenz.«
»Nichts?«
»Nicht exakt nichts, aber zumindest nicht unsere Leute. Wir fanden ihre Roben und Waffen. Das ist alles.«
»Aber wo, Atwell? Und in welchem Zustand?«
»Vergebt mir, Eure Heiligkeit. Ich begreife es selbst nicht. Wir fanden ihre Gewänder verstreut, als wären unsere Leute in der Schlacht gefallen, aber es gab keine Leichen. Nicht eine einzige.«
»Was könnte geschehen sein?«
»Womöglich wurden sie überwältigt und gefangen genommen. Ihre Roben hat man dort arrangiert als eine Art Botschaft. Oder sie wurden bis auf den letzten Mann erschlagen, und man hat ihre Körper verschleppt und ― auch in diesem Fall ― ihre Kleider als ein Zeichen zurückgelassen.«
»Hundert unserer fähigsten Pastoren, gefangen genommen oder getötet von dreißig Hunger leidenden Tunnelratten? Das kann ich nicht glauben.«
Er hatte gehofft, dass Atwell nach diesem kleinen Zornausbruch bereitwilliger reden würde. Das Gegenteil war der Fall. Atwell sah zu Boden und verkniff sich eine unbeherrschte Reaktion. Auch die beiden anderen Pastoren wichen dem Blick des Großbischofs aus. Er mäßigte seinen Ton.
»Also gut, Atwell. Ich war nicht dabei und habe es nicht mit eigenen Augen gesehen. Du wirst dir sicher vorstellen können, wie das in meinen Ohren klingt.«
Atwells Kiefer entspannte sich etwas.
»Selbstverständlich, Eure Heiligkeit.«
»Ich will eure Einschätzung hören. Was glaubt ihr, ist da draußen vorgefallen?«
Atwell zögerte, schielte zu seinen beiden Begleitern herüber und schien dann zu begreifen, dass er von deren Seite keine Antworten zu erwarten hatte. Er sah den Großbischof an.
»Ich gehe davon aus, dass sie tot sind. Allesamt. Ich glaube, Collins und seine Anhänger sind weitaus stärker, als wir bisher angenommen haben. Außerdem vermute ich, dass sie vorhaben, die Stadt zu übernehmen.«
»Tut ihr das?«, fragte der Großbischof. »Tut ihr das wirklich?«
Er war wütend. Jedoch nicht auf seine Kundschafter. Tief in seinem Herzen teilte er ihre Überzeugung. Wie hatte er nur zulassen können, dass so etwas geschah, noch dazu direkt vor seiner Nase?
»Wo, in Gottes Namen, haben sie diese Kräfte erworben?«
»Das kann ich nicht sagen, Eure Eminenz.«
»Das weiß ich, Atwell. Tut mir leid, ich habe bloß laut gedacht. Was habt ihr sonst noch herausgefunden?«
»Wir sind uns ziemlich sicher, dass Magnus einen Hinweis bezüglich Collins' Aufenthaltsort erhalten hat, denn wir sahen etwa siebzig seiner Männer von den Tunneln zurückkehren. Sie waren müde, schienen aber unverletzt zu sein. Ich glaube nicht, dass sie ihn gefunden haben.«
»Es könnte natürlich ein, dass er hundertsiebzig Männer ausgesandt hat, und nur siebzig sind zurückgekehrt.«
»Danach sah es nicht aus, Eure Heiligkeit.«
»Ich weiß, ich weiß. Geliebter Vater im Himmel.«
Der Großbischof lehnte sich zurück und schloss einen Moment lang die Augen. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Eure Heiligkeit?«
Er öffnete die Augen.
»Ihr könnt jetzt gehen, Atwell.«
»Nein, Eure Eminenz, ich bin noch nicht fertig.« »Was denn noch?«
»Es ist bloß ein Gerücht ― wir hatten weder die Zeit noch genügend Männer, um uns selbst zu überzeugen ―, aber es sieht ganz danach aus, als seien Magnus' Männer Collins im Kampf begegnet und hätten ebenfalls eine Niederlage erlitten. Magnus selbst soll schwer verwundet worden sein. Die Bürger wissen, dass etwas nicht stimmt. Gerüchte verbreiten sich schnell. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis sie versuchen werden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Aus Angst vor einem Fleischengpass plündern die Leute bereits die Metzgereien. Wenn dort nichts mehr zu holen ist, wird der Mob MFP stürmen. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir augenblicklich handeln und eine Ausgangssperre verhängen.«
»Ihr habt Recht. Bitte kümmert euch sofort darum.« »Bloß noch eine weitere Angelegenheit, Eure Eminenz.« Der Großbischof bemühte sich, nicht mehr länger die
Haltung zu bewahren und seufzte offen.
»Dann fahr fort.«
Doktor Fellows teilte uns mit, dass Pastorin Mary Simonson sich nicht mehr im Genesungszimmer aufhält. Er glaubt, dass sie schon geraume Zeit fort ist.«
»Fort? Aber sie ist viel zu krank, um
irgendwohin
zu gehen.«
»Offenkundig nicht, Eure Eminenz.«
»Also gut. Ich danke euch, Atwell.«
Der Großbischof entließ die Pastoren mit einem Wink. Sie verbeugten sich und traten zurück.
Kaum waren sie gegangen, stand er auf und ging zu ei
nem schmalen Spind, in dem er seine Roben verwahrte. Neben ihnen hing ein schwerer Knochenknüppel, vergilbt und lange unbenutzt. Er nahm ihn vom Haken und wog ihn in der Hand. Er trat einige Schritte zurück und schwang ihn nach links und rechts und rief sich einige der Schlagkombinationen, die er einst so perfekt beherrscht hatte, ins Gedächtnis zurück. Er hätte niemals damit gerechnet, ihn noch einmal zu benötigen.
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Magnus war Bruno dankbar. Dankbar dafür, dass er sich als ein Mann erwiesen hatte, für den er sich aus den richtigen Gründen entschieden hatte. Ein Mann, auf dessen Loyalität er zählen konnte. Nachdem sie aus ihren Zellen ausgebrochen waren, war Bruno der Erste an seiner Seite gewesen. Mit der Hilfe vier weiterer Männer hatten sie den Fleischbaron vom Zaun heruntergeholt.
Magnus erinnerte sich nur ungern daran. Nachdem er so lange dort gehangen hatte, waren die Pfosten beinahe eins mit seinen Beinen geworden. Drei Männer waren nötig, seinen massigen Leib zu halten und jeweils ein weiterer, um jedes seiner Beine von den Pfählen zu befreien. Der Schmerz, als sie die Beine mit langsamen, ruckartigen Bewegungen in die richtige Position drehten und von den rostigen Spitzen rissen, war kaum auszuhalten. Er hatte sich übergeben und dann ― was für eine Gnade ― das Bewusstsein verloren.
Nun lag er auf seinem Bett, die Beine von Doktor Fellows gereinigt und bandagiert ― noch so ein guter Mann, der jeden einzelnen Bullen wert war, den er ihm unter der Hand hatte zukommen lassen. Fellows hatte ihm gesagt, dass aufgrund seiner kräftigen Statur eine echte Chance bestünde, dass er durchkommen würde. Eine Chance. Mehr verlangte Magnus überhaupt nicht. Denn im Gegensatz zu anderen wusste Magnus seine Chancen zu nutzen. Selbst wenn sie noch so gering waren. Die meisten Menschen, denen er
begegnet war, erkannten eine Chance nicht einmal dann, wenn sie man sie ihnen um die Ohren schlug.
Vielleicht würde er genesen.
Vielleicht würde er seine Unterschenkel nicht verlieren. Vielleicht würde er wieder laufen.