Authors: Joseph D'Lacey
Tags: #Fiction, #Horror, #Thrillers, #Suspense, #Science Fiction, #General, #General Fiction
Der Großbischof wartete auf eine Antwort. Shanti gab ihm keine. Er musste herausfinden, wie viel sie wussten. Schließlich sagte er: »Was für andere Zweifel?«
»Du bist zu
gut,
Shanti. Du bist nicht wie die anderen Bürger. Pastorin Mary Simonson hatte das Gefühl, sie müsste mehr über dich herausfinden. Mehr über deine Familie und darüber, wo du herkommst. Dein Stammbaum reicht bis zur Schöpfung zurück. Wusstest du das?«
»Ich glaube, ich habe es ihr gegenüber erwähnt. Die Shantis sind eine alte Familie.«
Der Großbischof blickte aus dem Fenster. Er wirkte ungeduldig, fast überreizt. Er drehte sich wieder um und sah Shanti an.
»Du bist nicht, wer du zu sein vorgibst.«
Shanti musste lächeln. Hielten sie ihn etwa für eine Art Spion?
»Wer bin ich dann?«
»Das ist es, was wir herausfinden wollen.«
Shanti überdachte kurz seine Situation. Sie schienen nicht sehr viel über ihn zu wissen. Eigentlich schienen sie überhaupt nicht großartig viel zu wissen. Und jetzt bezichtigten sie ihn irgendeines dubiosen Betrugs. Derweil befand
sich seine Familie ― seine Töchter ― in der Hand des gefährlichsten Mannes von Abyrne. Er musste handeln.
»Als eure Männer gestern Abend kamen, um mich abzuholen, las ich gerade eine Nachricht, die auf meinem Tisch hinterlassen wurde. Zweifellos wird euch aufgefallen sein, wie still es im Haus war. Magnus hat meine Frau und meine Töchter entführt, Eure Heiligkeit. Und er wird ihnen wehtun. Sie befinden sich in großer Gefahr, wenn ich nicht auf der Stelle gehe, um mich mit ihm auf seinem Anwesen zu treffen. Zumindest verlangt er das von mir.«
»Magnus hat deine Familie in seiner Gewalt?«
»Ja. Ich habe eure Pastoren für seine Männer gehalten. Ich dachte, dieser Ort hier sei sein Anwesen.«
Die Miene des Großbischofs wechselte von Neugierde zu Wut.
»Magnus will dich in seinem Haus sehen?«
»Das stand in der Nachricht.«
»Warum? Warum will er dich sprechen?«
»Das wüsste ich auch gerne. Alles, was für mich noch zählt, sind meine Töchter. Sie muss ich vor ihm schützen. Der Mann ist unberechenbar.«
»Ha.« Der Großbischof schnaubte. »Unberechenbar? Der Mann ist ein tollwütiger Hund.«
Der Großbischof strich sich durch den Bart und drehte sich weg. Shanti sah eine Chance für sich. Magnus war der Erzfeind des Großbischofs, und das machte ihn, Richard Shanti, womöglich zu seinem Freund.
»Lasst mich zu ihnen gehen«, sagte er. »Lasst mich he rausfinden, was Magnus will. Ich werde einen Weg finden, an diese Information für Sie heranzukommen. Alles, was mich interessiert, ist meine Familie aus seinen Händen zu befreien. Versprechen Sie mir, Sie zu schützen, und ich werde so viel wie ich kann für Sie herausfinden.
Magnus kann mich gerne haben, wenn sie nur in Sicherheit sind.«
»Ich kann in dieser Stadt für die Sicherheit von niemandem mehr garantieren. Es ist zu spät. Und ich kann dich nicht gehen lassen, jetzt, wo ich dich einmal in Gewahrsam habe. Du kannst mir womöglich wesentlich gefährlicher werden als Magnus. Ganz gleich, ob du das nun zugeben willst, oder nicht. Was bleibt, ist die Tatsache, dass wir wissen müssen, wer du bist. Denn eines ist absolut sicher: Du bist nicht Richard Shanti. Richard Shanti starb vor achtundzwanzig Jahren.«
Als er schließlich erschöpft war, brachten die Dienstmädchen Maya weg. Sie zogen die mit Flecken von Blut und Erbrochenem besudelten Laken ab und ersetzten sie, so dass er schlafen konnte. Sie badeten ihn, und er schlotterte, als hätte er Angst. Doch sie wussten, dass es nicht so war. Sie brachten ihn in sein sauberes Bett, zogen ihm die Decken über und selbst im Schlaf schüttelte es ihn noch. Sein Kopf zuckte auf dem Kissen hin und her.
»Was weißt du über John Collins?«
»Nur das, was ich gehört habe. Die Leute sagen, er wäre so eine Art Messias.«
»Hast du ihn jemals getroffen?«
»Nein.«
»Ich glaube, du lügst.«
Shanti war ein schlechter Lügner, und er wusste es. Der Großbischof wiederum musste nach jahrelanger Erfahrung in der Auseinandersetzung mit den Sündern der Stadt und dem Hüten seiner Schäfchen ein Experte im Beurteilen menschlicher Regungen sein. Es war unmöglich, sich seinen Fragen oder der Art wie seine Augen die geheimen Si
finale lasen, die Shantis Körper ihm wider Willen gab, zu entziehen. Aber ihm die Wahrheit zu sagen, war keine Option. Nicht, solange sie ihn nicht dazu zwingen konnten.
Aber sie
konnten
es, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es auch tun würden. Sein Widerstand würde brechen, und er würde ihnen alles sagen, was er wusste. Er war kein starker Mann, und diesbezüglich würde er ihnen auch nichts vormachen können. Aber er würde so lange, wie er konnte durchhalten.
»Ich kenne ihn nicht.«
Der Großbischof blickte auf und starrte aus dem kleinen Fenster. Als gäbe es dort Bedeutsameres zu sehen, als den grauen, Wolken verhangenen Himmel.
»Ich sehe, dass du ein Mann von ... wie soll ich sagen ... eher schmächtiger Statur bist. Aber in dieser Stadt bist du kein armer Mann. Du kannst dich nicht damit entschuldigen, dass du dir das Fleisch, welches Gott uns schenkt, nicht leisten kannst.«
»Ich bin Läufer. Ich laufe jeden Tag viele Meilen. Das hält mich schlank.«
»Ich würde es eher >ausgemergelt< nennen.«
Shanti reagierte nicht. Der Großbischof fuhr fort.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass John Collins ähnlich schmächtig gebaut ist. Willst du behaupten, das wäre bloß ein Zufall?«
»In der Stadt leben viele dünne Menschen.«
»Aber keiner von denen hat einen so gut bezahlten Job wie du, Shanti. Oder wie Collins, bevor er sich davongemacht hat. Also frage ich dich noch einmal, warum seid ihr beide so ... unterernährt?«
»Ich kann dir nur immer wieder sagen, dass ich beim Laufen Tag für Tag mein Fett verbrenne. Für Collins kann ich nicht sprechen.«
Der Großbischof blickte zu seinen beiden Pastoren herüber und seufzte.
»Ich werde sehr bald meine Geduld verlieren, und dann ist es vorbei mit dem höflichen Geplänkel.«
»Und Magnus wird sehr bald beginnen, meine Familie zu verstümmeln. Vielleicht hat er schon damit angefangen. Collins und deine Fragen kümmern mich nicht. Es ist mir egal, dass du behauptest, ich wäre nicht der Mann, der ich zu sein glaube. Alles, was mich kümmert, sind meine Lieben. Helft mir, sie zu retten, und ich werde alles tun, euch alles sagen, was ihr wollt. Aber jetzt noch nicht. Lasst mich erst zu ihnen gehen. Gebt mir die Chance, sie zu retten. Ich beschwöre euch.«
»Wenn ich dich gehen lasse, wird Magnus dir exakt die gleichen Fragen stellen wie ich, aus exakt den gleichen Gründen. Er wird mit deiner Familie machen, was er will. Ganz gleich, ob ihn das, was du ihm erzählen wirst, zufriedenstellt oder nicht. Du kannst sie und dich selbst nicht retten, bloß indem du aus diesem Raum entkommst.«
»Nein, aber ich kann es zumindest versuchen. Und dann werden sie wissen, dass ich sie nicht im Stich gelassen habe, als sie mich am meisten brauchten. Um Gottes illen, habt doch Erbarmen.«
»Sag mir, wo sich Collins und seine Anhänger verstecken und ich werde dich gehen lassen.«
»Das kann ich nicht.«
»Dann ist deine Familie verloren. Tut mir leid.«
Shanti ließ voller Elend und Verzweiflung den Kopf in seine Hände fallen. Ihm blieb keine andere Wahl. Als er wieder aufsah, war sein Gesicht nass, seine Augen gerötet.
»Er ist im verlassenen Viertel.«
»Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, Shanti. Oder ich werde deine Töchter eigenhändig umbringen.«
»Lass mich ausreden. Es ist tief im Inneren. Einige Meilen weit. Hinter den Wohnblocks fällt der Boden ab, von der Stadt weg. Am Grunde dieses Hangs, irgendwo ziemlich in seiner Mitte, gibt es eine Öffnung. Sie führt zu einer Reihe von Tunneln. Dort sind sie. Ich konnte nicht sehen, wohin sie mich gebracht haben. Ich weiß bloß, dass es tief unten war ― drei Ebenen unter der Oberfläche.«
Der Großbischof schien von Shantis Worten geschockt zu sein. Nicht, weil sie dort waren. Shanti hatte den Eindruck, dass es eher daran lag, dass es Orte in Abyrne gab, von denen er nicht wusste. Bereiche, die sich seiner Autorität entzogen.
»Wie viele sind es?«
Shanti machte seinen Verrat vollkommen. »Fünundzwanzig, höchstens dreißig. Es sind auch einige Frauen dabei.«
Der Großbischof lachte.
»Dreißig? John Collins glaubt, er könnte mit dreißig hungernden Höhlenbewohnern die Kontrolle über Abyrne an sich reißen? Ich kann kaum abwarten, bis die Pastoren ihn wegsperren.« Er nickte seinen beiden Begleitern zu. »Gebt euer Bestes da draußen und bringt das für mich zu Ende. Und schafft mir Collins lebend hierher.«
»Was ist mit dem hier?«
»Soll er doch zu Magnus gehen. Er kann uns nicht mehr schaden. Bis Magnus die Information aus ihm herausgeholt hat, ist der Spuk mit Collins längst vorbei. Wir werden der Stadt vor Augen führen, was mit Gotteslästerern geschieht. Ich denke, es ist an der Zeit, dass die Fürsorge sich wieder um die Auserwählten kümmert und ihr Opfer für uns wieder zu einer heiligen Sache macht.«
Der Großbischof klopfte an die Tür, der Kerkermeister schloss auf, und die zwei Pastoren verließen den Raum.
Der Großbischof blickte Shanti in die Augen.
»Solltest du das hier überleben ― unabhängig davon, ob es dir gelingt, deine Familie zu retten oder nicht ―, werde ich die Wahrheit über dich herausfinden, Richard Shanti. So oder so. Ich werde nicht zulassen, dass ein Mensch wie du ins verlassene Viertel flüchtet, um dort sein Leben im Exil zu verbringen. Ich werde dich finden, wohin auch immer du gehst.« Er sah wieder aus dem Fenster, als suche er etwas in den Wolken. »Und nun los. Geh und bring dein Opfer. Aber sei bereit für mich, wenn du getan hast, was du glaubst, tun zu müssen.«
Ohne dass sein Rucksack ihn zu Boden drückte, sprintete Shanti davon.
Er flog.
Es waren hundert Pastoren. Sie fächerten sich auf, bluteten in ihren scharlachroten Roben ins verlassene Viertel hinein. Schon bald waren die Säume ihrer Gewänder grau vom Staub der Trümmerfelder. In jeder Hand leuchtete ein polierter Oberschenkelknochen, in den eine Passage des Buches des Gebens graviert war. Ideale Totschläger: leicht, stabil und halbwegs flexibel. Das verdickte Ende, wo einmal das Kniegelenk war, diente als Griff, weil es verhinderte, dass einem der glatte Knochen beim Schwingen aus der Hand rutschte. Das Hüftende war teils Knüppel, teils stumpfer Haken. Die Pastoren waren darin geschult, sie sowohl zur Abwehr als auch beim Angriff einzusetzen. Und diese Pastoren waren die Besten, die die Fürsorge zu bieten hatte.
Sie rückten vorsichtig vor. Misstrauisch nach rechts und links blickend, hielten sie sowohl das Gelände im Auge als auch untereinander Blickkontakt. Das verlassene Viertel war ein Ort, den die Pastoren hassten und fürchteten. Hier, wo Abyrne endete und das Niemandsland begann, ver
krochen sich Flüchtlinge, Ketzer und Verbrecher, um ein Dasein voller Entbehrungen und Hunger zu fristen. Was sicher, gesetzestreu und gottgefällig war, wurde wild und unberechenbar. Das verlassene Viertel war falsch. Sie alle spürten seine Bösartigkeit bis in die Knochen.
Ab und an stolperte einer von ihnen in dem zerklüfteten, unbarmherzigen Schutt und Geröll. Jedes unerwartete Geräusch ließ sie innehalten und seiner Quelle zustreben. Nervöse Mägen grummelten. Feuchte Handflächen hinterließen Flecken auf rotem Samt.
Pastor James Jessup war der Jüngste und vermutlich der Kräftigste unter ihnen. Neben seiner Furcht verspürte er vor allem ein tief sitzendes Verlangen danach, Schmerz und Bestrafung an die Gottlosen auszuteilen, wenn er sie endlich aufgespürt hatte. Sie sollten nur Collins lebend abliefern. Mit dem Rest konnten sie machen, was sie wollten. Mit der zunehmenden Erregung schmeckte er den Geschmack von Eisen in seinem Mund und genoss es. Dies war Gottes Eisen in seinem Speichel, das durch sein Blut rann. Es würde seine Stärke sein, und mit seiner Hilfe würde er die Gottlosen niederschlagen.
Er ging ganz vorne in der Gruppe mit, so dass er einer der Letzen war, die etwas bemerkten, als die Attacke kam. Als er sich herumdrehte, fielen seine Brüder bereits wie die roten Blätter im Herbst. Zwischen ihnen bewegte sich etwas, das sich als die Schatten ungewöhnlich schlanker Männer und Frauen entpuppte. Sie waren in Lumpen gehüllt: die Ärmel und Hosenbeine zerfetzt von den überall hervorragenden scharfen Kanten und Vorsprüngen.
Die Pastoren drehten sich herum und hoben ihre Keulen zu tausendfach geübten Schwüngen. Diagonal herab, von rechts nach links gezogen, wuchtige Aufwärtshaken. Keiner der Schläge traf. Mit wehenden Soutanen gingen die
Pastoren zu Boden, um in den, aus den klaffenden Wunden des wüsten Landes aufsteigenden Staubwolken zu verschwinden.
Sie hielten ihn auf, bevor er die Eingangstüre erreichte. Männer in langen Mänteln rannten von beiden Seiten der Auffahrt auf ihn zu, um ihn zu attackieren. Es war gar nicht nötig: Er hatte nicht vor, sich zur Wehr zu setzen.
»Ich bin Richard Shanti«, sagte er. »Magnus will mich sehen.«
Als sie das Haus betraten, während jeweils einer der Männer einen seiner Arme umklammerte, normalisierte sich seine Atmung wieder. Bloß sein Herzschlag fand nicht so recht in seinen gewohnten Rhythmus zurück. Allerdings nicht, weil er Angst hatte, sondern weil er kam, um seine Töchter zu holen.
Die Männer brachten ihn hoch ins Arbeitszimmer, aber es war leer. Sie warteten.
Irgendwo im Haus hörte er ein Weinen. Er erkannte die Stimmen.
Nein, nein, nein.
»Wo, verdammt noch mal, steckt Magnus?«, schrie er dem Mann zu seiner Linken ins Gesicht.
Der Mann lächelte.
»Beschäftigt.«
»Ich muss ihn sehen. Und er will mich sehen. Sofort.«
Was sollte er bloß tun? Das Monster verging sich an seinen Töchtern. Was hatte er ihnen bereits angetan?
»Hör zu. Sag ihm, dass ich weiß, wo John Collins ist. Sag ihm, ich weiß, wo sich Prophet John und seine Leute verstecken.«
»Du kannst es ihm selbst sagen, wenn er fertig ist.« »Nein, du musst es ihm sofort sagen. Glaub mir, er will
das wissen. Er wird nicht unnötig Zeit vergeuden wollen.«