Bernell erzählte mir, dass Andrews seit 1969 an Arthritis litt. War das der Grund dafür, dass die Mordserie des Zodiac aufgehört hatte? Konnte es sein, dass sich das Leiden auch in seinen späteren Briefen irgendwie ausdrückte?
»Don wirkt ein bisschen selbstgefällig. Die meisten Leute würden ihn wahrscheinlich nicht unbedingt sympathisch finden. Er steckt jeden Penny in seine Fotoausrüstung.«
Als ich Bernell nach Dons Handschrift fragte, sagte er: »Wenn er etwas schreibt, macht er es auf eine ziemlich mühsame Weise. Er nimmt fast immer Filzstifte.«
Don Andrews war tatsächlich ein hochinteressanter Verdächtiger. Ich würde jedoch nicht weiterkommen, solange ich nicht mit ihm selbst sprechen konnte. Und es schien mir auch notwendig, mich mit Narlow über ihn zu unterhalten.
Bei dem Radiosender, wo Andrews gearbeitet hatte, war er vor allem mit einer Frau aus der Personalabteilung immer wieder aneinander geraten, von der ich jetzt Handschriftenproben des Mannes bekam. Sie reichten jedoch nicht aus, damit Morrill ein echtes Urteil fällen konnte, inwieweit Andrews nun als Verdächtiger infrage kam oder nicht.
Ich fand heraus, wer die jugendlichen Zeugen im Mordfall Stine waren, und zeigte ihnen ein Bild von Don Andrews. Sie fanden, dass er »zu alt und zu dick« sei.
Etwas später begann ich auch daran zu zweifeln, dass Andrews der gesuchte Mörder war.
Dienstag, 3. Mai 1979
Um 23.05 Uhr rief mich unerwartet Sergeant Ralph Wilson aus Vallejo an.
»Mir ist da etwas Merkwürdiges passiert«, erzählte er. »Ich bin ja immer noch mit dem Zodiac-Fall beschäftigt und habe gerade Berichte über einen Cop überprüft, der damals mit Darlene Ferrin ausgegangen ist - da bekomme ich einen Anruf von einem anonymen Informanten, der mir sagt, er fürchtet, dass er ermordet werden könnte.«
Es lief mir eiskalt über den Rücken. Ich wusste, dass mich Sergeant Wilson nicht anrufen würde, wenn an der Sache nicht tatsächlich etwas dran wäre.
»Dieser Informant spricht von einem ehemaligen Zimmergenossen, von dem er sich bedroht fühlt, weil er weiß, dass dieser Zimmergenosse der Zodiac ist«, fuhr Wilson fort. »Der Kerl ist ganz außer sich vor Angst. Der Verdächtige hat auf einer Ranch gelebt. Er ist ein launischer Mensch, außerdem Waffenexperte, und er hat Fotos und Beweisstücke von dem Mord an Darlene Ferrin. Er hat überhaupt Fotos von allen Opfern. Wir nehmen an, dass es sich um den Unbekannten handelt, der damals im Restaurant Streit mit Darlene hatte. Er beschäftigt sich außerdem mit okkulten Praktiken und Kryptografie, und er hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Phantombild. Der Mann hat im Sheriff’s Department gearbeitet und wurde gefeuert«, fügte Wilson hinzu. »Ich möchte ihn fürs Erste der Einfachheit halber ›Jack‹ nennen.«
Ich persönlich hielt zu diesem Zeitpunkt Andrews für einen absolut heißen Verdächtigen, aber man musste natürlich jeder Spur nachgehen.
Wilson berichtete, dass dieser Jack bereits 1969 einer der Verdächtigen im Mordfall Ferrin gewesen sei, dass er aber deshalb ausgeschieden sei, weil er, so dachte man damals, unmöglich in der fraglichen Zeit von zu Hause zu den Tatorten und wieder zurück gelangt sein könne. Der unbekannte Informant hatte Sergeant Wilson nun auf eine kleine Privatstraße zur Lake Herman Road aufmerksam gemacht. Die Straße war durch ein Tor gesperrt, das mit drei Kombinationsschlössern gesichert war. Jack kannte vermutlich die Kombinationen und benutzte vielleicht diese Straße, um die Morde zu begehen und danach nach Hause zurückzukehren. Das mochte auch erklären, warum Mrs. Borges den Wagen des Mörders nicht gesehen hatte, als sie auf der schmalen Lake Herman Road nach Benicia fuhr und einen Streifenwagen anhielt.
Sergeant Wilson versprach, mir Bescheid zu sagen, sobald sich etwas Neues ergab. Er musste darauf warten, dass sich der Informant wieder meldete und ihm verriet, wer er war. »Ich kenne diesen Jack«, fügte Wilson hinzu. »Dem Kerl traue ich alles zu.«
Sonntag, 24. Juni 1979
Toschi fühlte sich nach zehn Stunden Dienst ziemlich erledigt - doch er konnte mit einem zufriedenen Lächeln einen Artikel im
Progress
lesen, in dem stand, dass er wieder voll rehabilitiert war. Nun hatte er in allen vier Abteilungen gearbeitet, die sich mit Verbrechen gegen Personen beschäftigten: Sexualdelikte, Mord, schwere Körperverletzung und jetzt auch Raubüberfall. Er war wieder obenauf und mittendrin im Geschehen.
Ich freute mich sehr für ihn. Bei unseren Redaktionskonferenzen hatte ich Gelegenheit gehabt, mit zwei Bürgermeistern, Moscone und Feinstein, über eine mögliche Beförderung des ehemaligen Top-Inspektors zu sprechen. Möglicherweise habe ich damit auch eine Kleinigkeit dazu beitragen können, den verdienten Polizisten zu rehabilitieren.
Dienstag, 26. Juni 1979
Ich erfuhr, dass »Jack« seine Ranch verkauft hatte und mit dem Geld eine Bar in Nevada übernommen hatte. Ich fuhr mit dem Auto hin, um zu sehen, ob er äußerlich der Beschreibung des Mörders glich.
Als ich gegen Abend ankam, spielte er gerade eine Partie Billard. Er war groß, dünn und völlig kahlköpfig. Man hatte seine Fingerabdrücke mit dem blutigen Abdruck an Stines Taxi verglichen und keine Übereinstimmung festgestellt. Die Fotos, die er von Darlenes Leiche besaß, hatte er, wie er zugab, als Souvenir vom Polizeirevier mitgenommen. Es handelte sich tatsächlich um offizielle Bilder von der Autopsie und vom Tatort.
Ich war mir sicher, dass er nicht der Zodiac war.
1
Zodiac
Freitag, 27. Juli 1979
Seit März war ich damit beschäftigt, den umfangreichen, 340 Zeichen umfassenden Geheimtext zu entschlüsseln, den man in der CIA, der NSA und im FBI auch mithilfe der erfahrensten Entschlüsselungsexperten und der leistungsstärksten Computer nicht hatte knacken können (Zodiacs sechster Brief vom 8. November 1969, siehe nächste Seite).
Die meisten Leute hielten diesen Geheimtext für einen Scherz des Mörders, der eigentlich gar keine Bedeutung besaß. In der sechsten Zeile des Textes hatte Zodiac jedoch eine Korrektur vorgenommen. Nachdem er sich offensichtlich so bemüht hatte, die Geheimbotschaft in makelloser Form zu übermitteln, erschien es mir nicht sehr wahrscheinlich, dass er das perfekte Gesamtbild beeinträchtigen würde, indem er eine Korrektur vornahm, wenn die Zeichen gar keine Bedeutung hatten.
Und wenn Zodiac im Jahr 1978 den berühmten
Chronicle
-Kolumnisten Herb Caen erwähnte, so hatte er das vielleicht auch 1969 getan. Die ersten drei Buchstaben des Geheimtextes waren »H E R«. Ich fragte mich, ob wohl einige der hier verwendeten Zeichen dieselbe Bedeutung hatten wie in der Chiffre im ersten Zodiac-Brief, die von den Hardens entschlüsselt worden war. Ich stellte fest, dass dies offenbar zutraf: Die folgenden fünf Zeichen lauteten »CEANB«. Zusammen mit dem »H E R« ergab das in leicht verschobener Form den Namen »HERB CAEN«.
Es war nur logisch, davon auszugehen, dass Zodiac noch weitere Elemente der alten Geheimschrift übernommen hatte. In der Lösung des Ehepaars Harden waren etliche Rechtschreib- und Codierungsfehler zutage getreten, was ich auch für diesen Text in Betracht ziehen musste.
Caens Name war das Schlüsselwort in der Botschaft. Auf der Grundlage dieser acht Zeichen begann sich mir die Bedeutung zumindest eines Teils des Textes zu eröffnen.
In der dritten Zeile von unten standen die Buchstaben »POSHT/«. Ich wusste, dass das »H« tatsächlich für ein H stand, sodass es sich um ein Anagramm für »TOSCHI« handeln konnte.
Ich versuchte mir vorzustellen, welche Gedanken den Mörder im Jahr 1969 beschäftigt haben mochten und wen er damals als seine größten Feinde betrachtet hatte. Da war einmal Herb Caen, und in der neunten Zeile fand ich schließlich eine Zeichenfolge, die eventuell für Sergeant Les Lundblad stand.
Meiner Ansicht nach war das Rätsel dieses Geheimtextes deshalb so lange ungelöst geblieben, weil Zodiac darin nicht nur die Namen vieler seiner Gegenspieler erwähnte, sondern auch die Orte, an denen er die Morde verübt hatte. Für einen Entschlüsselungsexperten an der Ostküste waren diese Namen wohl nichts sagendes Zeug.
Nach und nach traten aus der verschlüsselten Nachricht Wörter und Wortteile zutage, so etwa das Wort »SEE« und das unvollständige Wort »RN-AOD«; Letzteres stand wohl für »PARDON«, woraus ich das P erhielt. In der fünfzehnten Zeile kam die Zeichenfolge »ECBU-« vor, die wahrscheinlich »BECAUSE« bedeutete, worauf ich ebenfalls aufbauen konnte.
Der Brief, den Zodiac zusammen mit dem Geheimtext geschickt hatte, erwies sich als große Hilfe. Er erinnerte mich stets an seine förmliche Sprache, seine Art, gleichzeitig höflich und perfid zu sein, und seinen Ärger über »die Lügen«, die die Polizei über ihn verbreitete. Er sprach von sieben Opfern, deshalb suchte ich nach etwas, das für »acht« stehen konnte, weil er ja meist auf sein nächstes Opfer Bezug nahm. In einem Brief vom darauf folgenden Tag (9. November 1969) sprach er von den Lügen, die die Polizei über ihn verbreitete - und so suchte ich nach dem wiederkehrenden Wort »Lügen«. Er beendete seine Sätze oft mit »etc.«, also begann ich auch danach zu suchen.
Zodiac hatte bei der Ausarbeitung seiner Geheimschrift zuerst Buchstaben durch Symbole ersetzt und diese Symbole in einem zweiten Schritt untereinander vertauscht - er hatte also zuerst eine Substitution und danach noch eine Transposition durchgeführt. Jeder Buchstabe konnte durch verschiedene Zeichen dargestellt werden. Solche Codes, in denen die Zeichen auch noch untereinander vertauscht werden, sind naturgemäß schwerer zu knacken als solche, die auf bloßer Ersetzung beruhen.
Der Mörder hatte in dem Geheimtext fünfundsechzig verschiedene Symbole verwendet, von denen dreiundvierzig bis zu fünfmal vorkamen. Nur zwei, nämlich »+« und »B«, kamen öfter als zehnmal vor. Zodiac war in diesem Fall offensichtlich anders vorgegangen als bei der Chiffre, die die Hardens entschlüsselt hatten.
Wenn der Text nur ein wenig länger gewesen wäre! Die Experten meinten, dass ihnen eine längere Botschaft genug Material geliefert hätte, damit der Computer alle möglichen Kombinationen überprüfen und so die Lösung hätte finden können.
Sonntag, 29. Juli 1979
Während ich Abend für Abend an der Entschlüsselung der Chiffre arbeitete, spürte ich, dass ich der Lösung näher kam. Manchmal, wenn ich innehielt und zu den weißen Wänden meines Büros aufblickte, sah ich schon die Symbole des Geheimtextes vor mir.
Gegen 23 Uhr glaubte ich, endlich die Lösung zu einem der großen, als unlösbar geltenden Codes des vergangenen Jahrzehnts gefunden zu haben.
Die Hardens hatten den dreiteiligen Geheimtext geknackt, indem sie nach Doppel-L-Wörtern suchten, die besonders häufig vorkamen. Ich fand mehrere Stellen, an denen drei
L
standen - ein absichtlicher Fehler, um es den Entschlüsselungsexperten besonders schwer zu machen. So kamen Wörter wie »PILLL«, »ALLL«, »ALLLSO« und »WILLL« zustande.
Nach meinem Lösungsvorschlag hatte Zodiac zehn verschiedene Zeichen für den Buchstaben
E
verwendet, neun für das
S
und sieben für das
A
. Es stellte sich heraus, dass das immer wiederkehrende verkehrte
C
gar keine Bedeutung hatte.
Am nächsten Morgen schickte ich meine Lösung an die Kryptografentagung, die damals gerade an der Kent State University abgehalten wurde. Die Experten würden feststellen können, ob mein Vorschlag korrekt war, und eventuelle Fehler meinerseits korrigieren können.
Montag, 6. August 1979
Während ich an einem Entwurf für die Karikatur des nächsten Tages arbeitete, klingelte das Telefon. Es war Greg Mellen von der American Cryptogram Association. »Gratuliere«, sagte er, »Sie haben den Zodiac-Code geknackt.«
In diesem Moment wurde San Francisco vom schwersten Erdbeben seit achtundsechzig Jahren heimgesucht. Hochhäuser in der Innenstadt begannen zu wackeln und verschiedene Leute, die sich gerade in meinem Büro aufhielten, standen auf und gingen hinaus.
»Was ist los?«, fragte der Entschlüsselungsexperte.
»Bei uns bebt gerade die Erde.«
»Möchten Sie lieber später zurückrufen?«, fragte Mellen.
»Nein«, antwortete ich, »das hier ist wichtig. Sprechen Sie weiter.«
In diesem Augenblick wurde die Stadt von einem Nachbeben erschüttert.
Mellen beschloss, mir alles Weitere zu schreiben, anstatt noch länger zu telefonieren.
Mittwoch, 8. August 1979
»Sehr geehrter Mr. Graysmith«, schrieb Greg Mellen, »wie ich schon vor dem Erdbeben sagte, meine Gratulation - Sie haben den zweiten Zodiac-Code geknackt. Beiden Zodiac-Geheimtexten liegt eine so genannte homophone Chiffrierung zugrunde - das heißt, es handelt sich um eine Chiffre, bei der ein Buchstabe durch verschiedene Zeichen ersetzt wird. Die besondere Schwierigkeit der zweiten Chiffre besteht darin, dass die Buchstaben innerhalb der Wörter offenbar ganz willkürlich vertauscht sind. Solche Verschlüsselungsmethoden wurden schon im fünfzehnten Jahrhundert verwendet und sind keineswegs ungewöhnlich …