Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (55 page)

BOOK: Sebastian
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Im flackernden Licht der Fackeln, die zu beiden Seiten der Brücke aufgestellt waren, erkannte Koltak die Absicht in Sebastians Augen, konnte sich aber nicht schnell genug bewegen, um zu verhindern, dass er getroffen wurde.
Blitze schossen aus Sebastians Hand. Der Treffer wäre tödlich gewesen, hätte der Wachmann Sebastian nicht einen Schlag gegen den Kopf versetzt, so dass dieser sein Ziel verfehlte.
Koltak spürte, wie die Macht durch seinen linken Fuß fuhr, als Sebastian, von dem Schlag betäubt, zu Boden ging.
»Bindet ihn, bevor er noch mehr Schaden anrichten kann«, befahl Dalton scharf.
Einer der Männer löste ein Seil, das an seinem Gürtel hing, während der andere Sebastian das Bündel abnahm. Koltak wartete, bis Sebastians Hände hinter seinem Rücken gebunden waren, bevor er sich hinkend seinem Sohn näherte.
Der Schmerz war grauenhaft, und er vermutete, dass er die Zehen an jenem Fuß verloren hatte. Aber er humpelte noch einen Schritt nach vorne, hob die Hand …
… und Dalton stellte sich vor ihn.
»Nein«, sagte Dalton. »Ihr könnt keinen wehrlosen Mann niederschlagen.«
»Ohne Beine wird er uns weniger Schwierigkeiten bereiten«, knurrte Koltak.
Er sah das Entsetzen in Daltons Augen und erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Dieser Hauptmann der Wache taugte nicht dazu, den Machthabern in der Stadt der Zauberer zu dienen. Aber das würde Koltak richten. Vorläufig brauchte er Dalton und seine Männer.
»Ihr habt recht«, sagte Koltak. »Ich habe nicht nachgedacht. Eine Reaktion auf den Schmerz.«
Dalton nickte, aber es war deutlich, dass der Mann nicht überzeugt war.
»Sag mir, warum«, keuchte Sebastian.
Dalton zögerte und trat dann zur Seite.
Koltak starrte seinen Sohn an. Das Blut, das Sebastians Haar und Gesicht verschmierte, befriedigte ihn ein wenig, aber nicht genug. Nicht annähernd genug.
»Ich bin dir nicht von Nutzen«, sagte Sebastian. »Warum nimmst du all diese Schwierigkeiten auf dich, um mich hierher zu bringen?«
»Aber du bist uns von Nutzen«, sagte Koltak. »Du wirst uns den Feind ausliefern. Wir hatten keine Möglichkeit, Nadia oder Lee zu erreichen, also bist du der Einzige, zu dessen Rettung sie kommen wird.«
»Nein.« Sebastian stöhnte. »Nein.«
»Ja.« Koltak lächelte. »Siehst du? Ich habe dich nicht angelogen. Indem du Belladonna hierher bringst, wo wir sie vernichten können,
wirst
du Ephemera retten.«
 
Ich weiß nicht, wie die Dinge an anderen Orten der Welt gehandhabt werden, aber hier in den Landschaften gibt es drei Arten der Rechtssprechung: das Urteil des Alltags, das Urteil der Zauberer und das Urteil des Herzens.
Das Urteil des Alltags wird von Gesetzeshütern und Magistraten vollstreckt, die Gericht halten, um geringere Vergehen zu bestrafen und Streitigkeiten beizulegen, die an jedem Ort aufkommen, an dem sich Menschen versammeln, um dort zu leben.
Jedes Mal, wenn Gewalt zum Einsatz kommt, wird ein Zauberer gerufen, um die Strafe festzulegen. Manchmal besteht sie in dem Blitz, den die Magier hervorrufen können. Obwohl er Höllenqualen verursacht, bedeutet er dennoch einen schnellen Tod.
Aber manchmal erfordert die Strafe etwas weniger und doch mehr als den Tod, und der Zauberer wird die Nachricht aussenden, dass eine Landschafferin gebraucht wird, um das Urteil des Herzens zu vollstrecken.
Nichts weckt größere Angst - und größere Hoffnung - als das Urteil des Herzens. Die Landschafferin schafft eine direkte Verbindung zwischen Ephemera und dem Angeklagten und diese Person wird in die dunkelste Landschaft geschickt, deren Resonanz in ihrem Herzen klingt. Dieser Strafe kann man nicht entgehen, denn in welcher Landschaft die Person auch endet, sie muss mit dem Wissen leben, dass dieser Ort widerspiegelt, was sie ist, und dass alle Not, die sie hier durchleidet, ihrem eigenen Herzen entspringt.
Aber ebenso besteht die Hoffnung, dass eine Person
aus ihrer Vergangenheit lernen und sich stark genug verändern kann, so dass sie, eines Tages in der Lage sein wird, in eine andere, freundlichere Landschaft überzutreten.
Obschon jene Person zumeist in irgendeinem trostlosen Ort der Welt verschwindet und nie wieder gesehen wird.
 
-
Des Magistrats Buch der Gerechtigkeit
Kapitel Zweiundzwanzig
Lynnea schloss die Tür und lehnte sich mit der Stirn dagegen, noch nicht ganz bereit, sich dem leeren Zimmer zu stellen. Sie hatte schon viele Stunden alleine hier verbracht, aber dieses Mal war alles anders, weil Sebastian sich nicht bloß irgendwo im Pfuhl herumtrieb. Er war auf dem Weg in eine andere Landschaft - die Landschaft der
Zauberer
-, und er war mit einem Mann unterwegs, der sie nervös machte, obwohl sie nur einen flüchtigen Blick auf ihn hatte erhaschen können. Irgendetwas an der Art des Zauberers hatte dafür gesorgt, dass sie froh darüber war, dass die Bullendämonen eine zweite Portion Omelette bestellt hatten und am Tisch geblieben waren, während der Mann mit Sebastian gesprochen hatte.
Sie drehte sich um und lief auf die erleuchteten Vierecke in der gegenüberliegenden Wand zu. Mit geöffneten Vorhängen reichte das Licht der Straßenlaternen aus, um das Zimmer im Dunkeln zu durchqueren und die Öllampe auf dem Tisch neben dem Fenster anzuzünden, anstatt sich mit der Kerze auf der kleinen Kommode neben der Tür abzumühen.
Sich selbst zu bemitleiden, weil Sebastian für ein paar Tage fort war, war dumm und selbstsüchtig. Sie hatte viel zu tun. Die Tasche, die Nadia ihr dagelassen hatte, enthielt Garn, viel weicher und feiner als die raue Wolle, die sie von Mutter immer bekommen hatte, und Stricknadeln in verschiedenen Größen. Sie wusste nicht, ob man im Pfuhl um die Wintersonnenwende herum ein bestimmtes Fest feierte, aber in den meisten Landschaften gab es irgendwelche
Feierlichkeiten. Also würde sie aus dem blauen Garn einen Schal für Teaser stricken und aus dem grünen einen Schal für Sebastian. Es gab auch genug ungefärbtes Garn, um sich selbst einen Schal zu stricken - vielleicht mit blauen und grünen Bändern an den Enden. Und Teaser hatte angeboten, sie mit in eine der kleinen Musiktavernen zu nehmen, in denen Musiker einen Musikstil entwickelten, von dem er schwor, dass er unter den verweichlichten Tugendbolden der Landschaften des Tageslichts Empörung hervorrufen würde - und alle Menschen mit Feuer und Biss ganz versessen darauf machen würde, ihn zu hören. Oder sie könnten sich beide eine frustrierende Stunde lang damit vergnügen, dass er versuchte, ihr Kartenspielen beizubringen.
Da sie beim Münzenwerfen mit Teaser darum, wer als Erster das Bad benutzen durfte, verloren hatte, konnte sie ein paar Reihen an dem Schal stricken, den sie für ihn machte, während sie darauf wartete, dass sie an der Reihe war. Für einen Mann, der sich darüber beschwerte, wie viel Zeit
sie
im Bad verbrachte, kümmerte er sich ausgesprochen intensiv um sein Aussehen.
Sie lief hinüber zum Bett, um die Tasche mit Garn, die sie darunter aufbewahrte, hervorzuziehen, hielt dann aber inne. Sie schlug die Decke zurück und hob ihr Kopfkissen an. Manchmal ließ Sebastian kleine Zeichnungen unter ihrem Kissen zurück - mal von Blumen, mal Gesichter von Leuten, die im Pfuhl lebten.
Nichts. Natürlich nicht. Der Zauberer hatte ungeduldig zum Aufbruch gedrängt. Sebastian war wohl nicht länger im Raum gewesen, als er brauchte, um ein paar Sachen einzupacken.
Sie zog die Tasche mit dem Garn hervor, wandte sich den Polstersesseln zu, aus denen ihre Sitzgruppe bestand - und entdeckte etwas Weißes, das zwischen Kissen und Armlehne hervorragte.
Lächelnd ließ sie die Tasche fallen und eilte zum Sessel
hinüber. Vielleicht war dies eine Art Schatzsuche. Mutter hatte ihr nicht gestattet, Feste zu besuchen, bei denen sie auf den Gedanken kommen könnte, etwas wert zu sein, also hatte sie nie bei einer Schatzsuche mitgemacht, aber sie hatte gehört, wie andere Mädchen darüber sprachen. Würde sie kleine Zeichnungen finden, die hier und dort im Raum versteckt waren?
Ihr Lächeln erlosch, als sie das Papier aufhob. Es war kein Zeichenpapier, und es war nicht neu. Es war ein wenig zerknittert und schmutzig, als hätte es jemand lange Zeit mit sich getragen, und das Wort auf der Vorderseite …
Sie konnte ein bisschen lesen und gut genug rechnen, um sicherzugehen, dass man sie auf dem Markt nicht betrog, und sie wurde immer besser, jetzt, da sie gedruckte Bücher lesen konnte, in denen Geschichten standen - etwas, das Mutter ihr verboten hatte -, aber mit handgeschriebenen Texten hatte sie immer noch zu kämpfen.
Sie ging zurück zur Lampe und hielt das Papier so, dass sie die Schrift besser erkennen konnte.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie das Wort laut aussprach.
Belladonna.
Ihre Hände zitterten, als sie das Schriftstück umdrehte. Es war gefaltet worden und mit rotem Wachs verschlossen worden, in das ein kunstvolles, offiziell aussehendes Siegel gepresst worden war.
Es könnte einfach nur eine Nachricht sein, die Sebastian ausliefern sollte. Aber etwas in ihr wusste, dass es keine harmlose Nachricht war.
Furcht durchströmte sie, als sie das wächserne Siegel erbrach und das Papier entfaltete.
Die Handschrift, die zum Vorschein kam, war sauber und genau, und stammte wahrscheinlich von jemandem, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, wichtige Schriftstücke anzufertigen.
Sie stolperte über einige Wörter, aber die Botschaft war deutlich genug.
»Nein«, keuchte sie. »Oh, nein.«
Sie dachte nicht nach, klopfte nicht an. Sie rannte einfach ins Badezimmer. Da sie niemanden entdeckte, lief sie durch den Raum und stieß die andere Tür auf.
Teaser hatte sich zum Baden ausgezogen und schrie auf, als sie hereinstürmte. Er hechtete zu seinem Bett, packte ein Kissen und hielt es vor sich.
»Ich bin nackt!«, rief er. »Du kannst nicht einfach hereinkommen, wenn ich nackt bin.«
Von seinem an Panik grenzenden Tonfall aus der Fassung gebracht, starrte sie ihn an. »Um Himmels willen. Du bist ein Inkubus. Du zeigst dich Frauen
gerne
nackt.«
»Du bist keine Frau. Du bist Sebastians Geliebte. Geh weg.«
Sebastian.
Sie trat in den Raum und hielt ihm den Brief hin. »Der Zauberer hat eine Nachricht für Belladonna hinterlassen. Lies sie.« Sie ging einen Schritt auf ihn zu.
Er sprang ein Stück zurück. »Wenn die Nachricht für Belladonna ist, sollte ich sie nicht lesen. Genauso wenig wie du.«
»Teaser!
Die Zauberer sagen, Sebastian hätte die Frau umgebracht, die hier vor ein paar Wochen gestorben ist.
Sie werden ihm etwas antun.«
»Was?«
»Lies jetzt!«
Er nahm den Brief, ging rückwärts, bis er die Öllampe erreichte, die er angezündet hatte, und las. Während er las, vergaß er das Kissen, und es entglitt seinem Griff.
»Tageslicht«, flüsterte er. »Sie rufen die stärkste Landschafferin in die Stadt der Zauberer, um das Urteil des Herzens zu vollstrecken, aber wenn sie keine Antwort auf die Aufforderung erhalten, werden sie das Urteil der Zauberer sprechen.« Er runzelte die Stirn und schüttelte
dann den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Sie müssen wissen, dass die Schule angegriffen worden ist. Wie können sie davon ausgehen, dass eine -« Er hielt inne. Starrte das Papier an. »So ist es. Die Zauberer sind nie in der Lage gewesen, Belladonna zu finden, also bedrohen sie Sebastian, um sie dazu zu zwingen, zu ihnen zu kommen.«
»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Lynnea mit erstickter Stimme. »Sebastian hat diese Frau nicht umgebracht. Du weißt, dass er es nicht getan hat.«
Teaser sah sie mit düsterem Blick an. »Was sollen wir denn tun? Sebastian ist seit Stunden fort. Er ist mit einem Zauberer auf zwei Dämonenrädern weggefahren. Wahrscheinlich sind sie längst in die Landschaft übergetreten, in der die Stadt der Zauberer liegt. Und niemand weiß, wie man Belladonna findet. Sie sucht ihre Landschaften auf, wenn sie Lust dazu hat.«
»Nadia wird wissen, wie sie zu finden ist, und ich weiß, wie man Nadia findet.« Sie schnappte ihm das Stück Papier aus der Hand und lief zur Tür.
»Warte!« Teaser sprang los, holte sie ein und hielt sie am Arm fest. »Begreifst du nicht? Genau das wollen diese verfluchten Bastarde doch erreichen. Sie
wollen
, dass jemand Belladonna findet. Und wenn sie erst einmal in Reichweite des Rats der Zauberer ist, bringen sie sie
und
Sebastian um.«
Lynnea versuchte, ihn abzuschütteln. »Ich muss etwas tun. Ich lasse nicht zu, dass sie Sebastian etwas antun. Ich lasse es nicht zu.«
Teaser holte Luft, um etwas zu sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf. »In Ordnung. Sie muss davon erfahren, also müssen wir Belladonna finden. Aber zum jetzigen Zeitpunkt machen ein paar Minuten keinen Unterschied.«
»Aber -«
»Hör zu, ja? Wir müssen uns beide ein wenig frisch machen und saubere Sachen anziehen. Wenn wir in den
Landschaften des Tageslichts mit jemandem außer Sebastians Tante sprechen müssen, ist es besser, anständig auszusehen.«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ließ sie trocken schlucken. »Wir?«
BOOK: Sebastian
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