Freitag, 24. Juli 1970
Das Schreiben der nächsten beiden Zodiac-Briefe stellte ich mir so vor:
Der stämmige Mann sitzt in der Stille seines Kellers, zieht seine Handschuhe an und greift zu seinem Filzstift. Draußen ist helllichter Tag, doch er sitzt hier unten in der Dunkelheit, die nur von einer kleinen Lichtquelle erhellt wird.
Sein zwölfter Brief hatte folgenden Wortlaut:
Hier spricht der Zodiac
Ich bin ziemlich betrübt dass
ihr einfach keine schönen
-Buttons tragen wollt. Deshalb habe
ich mir eine kleine Liste zusammengestellt,
die mit der Frau & ihrem Baby
beginnt, die ich vor ein paar Monaten
einmal zu einem recht interessanten
meerstündigen Ausflug mitgenommen
habe der damit geendet hat dass ich
ihren Wagen angezündet habe.
Mit der Frau konnte nur Kathleen Johns gemeint sein. Kathleens Horrortrip war nur in einer kleinen Zeitung nebenbei erwähnt worden. Dass Zodiac nun von ihr sprach, ließ darauf schließen, dass es tatsächlich er war, der die Frau und ihr Baby hatte töten wollen.
Der stämmige Mann gab diesen Brief auf und begann dann mit der Arbeit an dem längsten Brief, den er je an den
Chronicle
schreiben sollte.
»Hier spricht der Zodiac«, begann der dreizehnte Brief, der übrigens hier zum ersten Mal vollständig abgedruckt ist. Auch diesmal machte er wieder seinem Ärger über die Bürger von San Francisco Luft, weil sie immer noch keine Zodiac-Buttons auf dem Revers trugen, nicht einmal solche mit boshaften Aufschriften.
Ich stellte mir vor, dass er an dieser Stelle beim Schreiben innehielt und überlegte, wie er seinem Zorn darüber, dass man ihn so sträflich ignorierte, am besten Ausdruck verleihen konnte. Und dann glitt sein blauer Filzstift so schnell über das Papier, wie es seine eigenwillige Schreibtechnik erlaubte.
»Ich«, schrieb er mit einem großen, entschlossenen I, das in der Größe nur von dem Z in »Zodiac« ganz oben übertroffen wurde.
Ich werde (neben allem anderem
was ich noch tue) alle 13 meiner
Sklaven, die im Paradis auf mich
warten, foltern.
Manche werde ich auf einem
Ameisenhaufen festbinden und
zusehen wie sie schreien & sich winden.
Einigen werde ich Holzsplitter unter
die Fingernägel treiben und sie anzünden.
Manche kommen in einen Käfig wo ich
ihnen Pökelfleisch zu essen gebe bis
sie nicht mehr können & dann höre ich zu
wie sie mich um Wasser anflehen und lache
ihnen ins Gesicht. Einige von ihnen werde
ich an den Daumen aufhängen und in der
Sonne schmoren lassen und dann reibe
ich sie ab, um sie ein wenig aufzuwärmen.
Und wieder anderen werde ich die Haut
bei lebendigem Leib abziehen & sie schreiend
herumlaufen lassen. Und …
An dieser Stelle begann er aus dem Libretto der Operette »The Mikado« von Gilbert und Sullivan zu zitieren, deren Text er etwas abänderte, damit er für seine Zwecke passte. Zodiac machte daraus folgenden Text:
alle Billardspieler werde ich
in einem dunklen Verlies spielen
lassen mit krummen Queus und
verbogenen Schuhen.
Ja es wird mir großes Vergnügen
bereiten meinen Sklaven die
raffiniertesten Qualen
zuzufügen
Das Zodiac-Symbol war nun schon von riesenhafter Größe, füllte den ganzen unteren Teil der Seite und lief auch über die Anmerkung:
SFPD = 0, Zodiac = 13
Der stämmige Mann saß über seine Arbeit gebeugt und verfasste, in Anlehnung an den Oberhofhenker Ko-Ko in »The Mikado«, eine kleine Liste all der Leute, die er gerne töten würde:
Weil eines Tages es sein kann
dass man ein Opfer braucht,
hab ich hier eine List.
Und auf der Liste stehn zum Beispiel
die Feinde der Gesellschaft,
die man sowieso vergisst, die werden
nicht vermisst, nein, die werden
nicht vermisst. Dann sind da all die
Quälgeister mit schlaffem Händedruck
und gackerndem Gelächter, die hab ich
auf der List’. Und die neunmalklugen
Kinder, die Löcher in den Bauch dir fragen,
und natürlich auch die Erwachsenen, die
ihre Kinder schlagen. Die werden nicht vermisst,
die werden nicht vermisst. Die Klavierspieler
und alle andern dieser Sorte, die hab ich auf der
List. Und alle, die Pfeferminzbonbons
lutschen und dir ihren Atem ins Gesicht blasen, die
werden nicht vermisst, die werden nicht vermisst.
Und der Idiot, der nur von vergangenen
Jahrhunderten spricht, der dabei ganz und gar
die Gegenwart vergisst. Und die Dame aus der
Großstadt, die sich kleidet wie ein Mann, und
das Mädchen, das - O Schande! - nocht nicht
ein Mal hat geküsst, die wird wohl nicht vermisst,
nein, die wird sicher nicht vermisst. Und all die
lächerlichen Leute, die Komiker und Alltagsclowns,
und die Aalglatten, denen nie ein klares Wort
zu entlocken ist, die hab ich auf der List. Und all
die andern, die - ihr wisst schon, wer - ich überlass
es euch, schreibt sie ruhig alle miteinander auf die List’,
denn die werden nicht vermisst, die werden alle
nicht vermisst.
Er schloss das Lied des Oberhofhenkers mit einem weiteren Zodiac-Symbol, das drei Viertel der letzten Seite in Anspruch nahm. Darunter fügte er noch einen Hinweis an, der die Karte vom Mt. Diablo und die verschlüsselten Zeilen dazu betraf, die er einen Monat zuvor abgeschickt hatte:
PS. Bei dem Geheimtext zum Mt. Diablo geht es um Einheitswinkel & Längenangaben
Am Sonntagmorgen schrieb der stämmige Mann dann »
S. F. Chronicle
« auf den Umschlag, stand von seinem Sessel auf, klebte eine Sechs-Cent-Marke rechts oben auf den Brief und ging in die Sonne hinaus, um ihn aufzugeben.
Montag, 27. Juli 1970
Die Briefe trafen gleichzeitig beim
Chronicle
ein.
Am Montag, Dienstag und Mittwoch wartete Zodiac darauf, in den Medien irgendetwas über seine jüngste Drohung zu hören. Doch es kam nichts - kein Wort. Was war da bloß schief gelaufen? Es konnte ja nicht sein, dass beide Briefe verloren gegangen waren.
Der August und der September verstrichen, und Anfang Oktober, kurz vor dem Jahrestag des Mordes an Paul Stine, waren die Zodiac-Briefe immer noch nirgends erwähnt worden. Der Serienkiller konnte nicht wissen, dass die Polizei und der
Chronicle
am 27. Juli beschlossen hatten, ein Experiment durchzuführen, um zu sehen, wie Zodiac reagieren würde, wenn man ihn in der Öffentlichkeit völlig ignorierte (die Briefe vom Juli wurden übrigens am 12. Oktober im
Chronicle
abgedruckt). Man ging dabei von der Vermutung aus, dass der Hunger nach öffentlicher Aufmerksamkeit das wichtigste Motiv des Mörders für seine Verbrechen war.
Aufgrund der Abweichungen vom Originaltext von Gilbert nahmen Armstrong und Toschi an, dass der Mörder die Zeilen aus dem Gedächtnis geschrieben hatte. Sie begannen eine mühevolle Suche nach ehemaligen Ko-Ko-Darstellern, weil sie vermuteten, dass Zodiac die Rolle irgendwann einmal in der Schulzeit gespielt haben könnte. Die Detectives begannen bei San Franciscos Gilbert-and-Sullivan-Truppe, die sich »The Lamplighters« nannte, und befragten alle Mitglieder, insbesondere die Bässe und Baritone. Aufgrund von Vergleichen der Handschriften sowie der äußeren Erscheinung der Männer mit der des Mörders konnte man ausschließen, dass irgendein aktueller oder ehemaliger Darsteller des Oberhofhenkers als Zodiac infrage kam. Toschi kam deshalb zur Auffassung, dass es sich bei dem Killer wahrscheinlich nur um einen Liebhaber der Opern von Gilbert und Sullivan handelte.
Ich fand heraus, dass die Lamplighters am Abend von Paul Stines Ermordung für »The Mikado« geprobt hatten, dessen erste Aufführung eine Woche später stattfinden sollte. Das Theater war etwa dreizehn Blocks vom Tatort entfernt.
Noch interessanter war die Tatsache, dass während der ganzen Zeit, in der »Mikado« am Theater lief, kein Brief des Zodiac kam. Die letzte Aufführung fand am Freitag, den 7. November, statt. An den beiden folgenden Tagen wurden zwei Zodiac-Briefe aufgegeben.
Zodiac schrieb in den vier Monaten nach dem Überfall auf Kathleen Johns vier Briefe, in denen er vor allem seinem Wunsch nach Aufmerksamkeit Ausdruck verlieh. Erst im vierten Brief wurde der Horrortrip schließlich erwähnt. Warum sprach er gerade jetzt davon? Der
Chronicle
druckte seine Briefe nicht mehr ab, und die Polizei hegte Zweifel daran, dass Zodiac überhaupt jemanden töten würde. Vielleicht griff der Mörder nach irgendetwas Konkretem, um zu beweisen, dass er noch aktiv war. Deshalb vielleicht die Zeilen:
… die Frau & ihr Baby, die ich
vor ein paar Monaten einmal zu einem
recht interessanten meerstündigen Ausflug
mitgenommen habe der damit geendet hat
dass ich ihren Wagen angezündet habe …
Wie, so fragte ich mich, hätte Zodiac jetzt auf diesen Vorfall kommen sollen, wenn er nicht der Mann war, der die Frau in jener Nacht ermorden wollte? Nur ein kleines Blatt, die
Modesto Bee
, hatte am Tag darauf erwähnt, dass Kathleens Wagen angezündet worden war. Wenn Zodiac nicht der Täter war, so musste er nahe genug bei Modesto leben, um den Artikel gelesen haben zu können.
Ich vermutete eher, dass Zodiac deshalb nicht früher von dem Vorfall gesprochen hatte, weil er tatsächlich der Täter war und Angst hatte, Kathleen könnte sich so gut an ihn erinnern, dass die Polizei bald an seine Tür klopfen könnte.
Zu dieser Zeit tauchte Kathleen Johns unter, sodass ich sie erst am 18. Februar 1982 finden konnte, um mit ihr zu sprechen.
Im Zusammenhang mit den Zodiac-Briefen ist auch interessant, dass der Killer es sich offenbar zur Gewohnheit gemacht hatte, an den Jahrestagen seiner Morde oder versuchten Morde Briefe abzuschicken. So schrieb er genau ein Jahr nach den Morden in der Lake Herman Road einen Brief, und genauso am 22. März 1971, an dem sich sein Angriff auf Kathleen Johns zum ersten Mal jährte.
Mittwoch, 6. Oktober 1970
In der Post des
Chronicle
fand sich eine einfache weiße, etwa sieben mal zwölf Zentimeter große Karte mit einer Botschaft, die der Absender mithilfe von Ausschnitten aus dem
Chronicle
vom Vortag verfasst hatte. Dazu hatte er mit Blut ein Kreuz gemalt. Die Botschaft war mit Montag, 5. Oktober 1970, datiert und lautete folgendermaßen:
SEHR GEEHRTER HERR CHEFREDAKTEUR,
Sie werden nicht erfreut sein, aber ich muss es Ihnen einfach
sagen.
DAS TEMPO LÄSST NICHT NACH! JA,
WIR HABEN JETZT NUMMER 13
›Manche von ihnen haben gekämpft
Es war furchtbar‹
Unter der »13« befand sich ein Kreuz, mit Menschenblut gemalt, und ein Postskriptum auf der linken Seite der Karte:
ES WIRD BERICHTET
Stadtpolizei-Schweine-Bullen sind
mir auf den Fersen, Falsch
Ich bin in Sicherheit, Wie hoch
ist das Kopfgeld schon?
Ganz rechts stand das Wort »Zodiac« in Antiquaschrift neben einem großen Zodiac-Symbol, wobei das Kreuz diesmal aus Klebestreifen bestand. Der Schreiber hatte dreizehn Löcher in die Karte gestanzt, die für seine Opfer standen.
Armstrong und Toschi glaubten zwei Tage lang, dass es sich um einen echten Zodiac-Brief handelte, legten ihn dann aber als das Werk eines Nachahmungstäters zu den Akten.
Das Beweismaterial im Zodiac-Fall füllte bereits einen feuerfesten Schrank aus grauem Stahl mit vier großen Schubladen.
Mittwoch, 28. Oktober 1970
Paul Avery, der Top-Enthüllungsjournalist des
Chronicle
, hatte die meisten Berichte über die Zodiac-Morde geschrieben. Er war deshalb nicht weiter überrascht, als der nächste Brief des Killers, sein fünfzehnter, nicht an den
Chronicle
adressiert war, sondern an Avery persönlich.
Diesmal hatte Zodiac eine bunte Halloween-Karte geschickt. Vorne war ein tanzendes Skelett mit einem schwarz- und orangefarbenen Kürbis abgebildet. Darauf stand in weißen Buchstaben:
FROM YOUR
SECRET PAL (Von deinem geheimen Kumpel)
Unten links stand ein kleines Gedicht, das folgenderma- ßen begann:
Ich spüre es
in meinen Knochen:
Du willst endlich
meinen Namen
wissen,
Und darum
will ich dir
das Geheimnis
verraten …
Avery bekam eine trockene Kehle. Gespannt öffnete er die Karte, um weiterzulesen.
Aber andererseits … dann würde ich uns das Spiel verderben!
ÄTSCH!
Happy
Halloween!
Im Inneren der Karte hatte Zodiac ein weiteres Skelett aufgeklebt, das von einer anderen Karte stammte. Dazu hatte er Augen gemalt, die zum Teil aus Schlitzen hervorguckten. Neben einem riesigen Z und dem bekannten Kreuz im Kreis hatte der Killer diesmal ein seltsames neues Symbol hinzugefügt, das auf den ersten Blick aus meteorologischen Symbolen zusammengesetzt zu sein schien.
Auf die Rückseite hatte Zodiac mit weißer Tusche, wie sie von Zeichnern verwendet wird, geschrieben: