Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (5 page)

BOOK: Sebastian
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Ich wünsche mir, an einem anderen Ort zu leben. Ich wünsche mir, Freunde zu haben. Ich wünsche mir, ich könnte etwas richtig machen, anstatt immer nur das Falsche zu tun, egal wie sehr ich mich anstrenge. Ich wünsche mir, ich würde jemand finden, der anders ist - den ich lieben kann. Ich wünsche mir, dass jemand mich liebt.
Ein seltsames Gefühl erfasste sie, so stark, dass sie vor Schreck die Faust öffnete.
Der Pfennig fiel in den Brunnen, und das Gefühl ließ nach.
Lynnea trat vom Brunnen zurück und wischte sich die Hände an ihrem geflickten Rock ab. Dann blickte sie zum Himmel hinauf und bekam Angst - ein Gefühl, das ihr nur allzu vertraut war. Der Hof lag auf der anderen Seite des Dorfes. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie es nicht schaffen, zurück zu sein, bevor die anderen aufstanden und ihre Abwesenheit bemerkten.
Und während sie sich noch fragte, ob das Risiko, das sie heute Nacht auf sich genommen hatte, ihr wohl etwas Gutes einbringen würde, zog Lynnea den Saum ihres Rockes bis über die Knie hoch und rannte zurück zum Hof.
 
Sebastian stand am Eingang der Gasse. Die bunten Lichter der Straßenlaternen, die der Hauptstraße des Pfuhls
ihren festlich dekadenten Glanz verliehen, reichten kaum bis hier her, fast so, als ob sogar das Licht diesen dunklen Ort meiden würde. Er war ein Dämon. Dies war seine Landschaft. Und trotzdem wollte er nicht tiefer in diese Dunkelheit hineingehen, wollte nicht sehen, was am anderen Ende der Gasse lag.
Aber was er wollte, spielte keine Rolle. Die Zuschauermenge, die dicht zusammengedrängt am Rand der Gasse darauf gewartet hatte, dass Teaser mit ihm zurückkehrte, beobachtete ihn jetzt. Menschen wie Dämonen beobachteten ihn.
Neben ihm streckte Teaser eine Hand aus und griff nach der Fackel, die ihm jemand reichte.
»Ich gehe mit dir«, sagte Teaser mit leerer Miene.
»Auch ich«, knurrte eine Stimme. »Gehe mit dir.«
Die Zuschauer machten dem Bullendämon Platz. Groß, gemein und nicht besonders schlau, kamen sie in den Pfuhl, um sich zu betrinken und den Mädchen grölend beim Tanzen zuzusehen. Die gefährlich gebogenen Hörner konnten einen Menschen durchbohren, und man erzählte sich, dass sie, trotz ihrer rinderähnlichen Züge, rohes Fleisch äßen … rohes Fleisch jeglicher Art.
Dieses Exemplar hielt einen dicken Holzknüppel in den Pfoten, der in einem mit Metalldornen gespickten Ball endete.
Sich mit einem Bullendämon, der eine bösartig aussehende Waffe bei sich trug, in einen engen Raum zu begeben, war ganz bestimmt nichts, was jemand tun würde, der seine sieben Sinne noch beisammen hatte, und so führte die Erleichterung, die Sebastian auf dieses Angebot hin verspürte, ihm besser vor Augen, als alles andere, wie sehr er fürchtete, was man in der Gasse gefunden hatte.
»Danke«, sagte Sebastian. Er schloss für einen Moment die Augen, nahm all seinen Mut zusammen … und betrat die Gasse.
Etwas stimmte hier nicht. Der Boden fühlte sich weich an, fließend …, so als ob er jeden Moment unter seinen Füßen Wellen schlagen könnte.
Nein. Fester Boden bewegte sich nicht, schlug keine Wellen. Ihm war einfach nur schlecht, ein bisschen schwindelig. Und das war verständlich angesichts dessen, was er zu finden erwartete.
Als sie weiterliefen, ließ das Licht der Fackel schließlich das andere Ende der Gasse erkennen. Alle drei blieben stehen. Der Atem des Bullendämons klang auf einmal hart und keuchend.
Die Leiche des Sukkubus, die sie vor einer Woche gefunden hatten, war übel zugerichtet gewesen. Aber diese hier sah schlimmer aus. Viel schlimmer. Die Leiche war weiblich und so verstümmelt, dass er nicht sagen konnte, ob er sie vorher schon einmal im Pfuhl gesehen hatte - er konnte noch nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob das, was da über die Gasse verteilt war,
wirklich
weiblich war.
»Menschlich«, flüsterte Teaser.
Sebastian zuckte zusammen, und der schreckliche Bann, in den ihn der Anblick der Leiche geschlagen hatte, zerbrach. Er riss den Blick von ihr los und sah Teaser an. »Erkennst du sie?«
Teaser erschauderte. »Der Armreif. Sie trägt immer diesen breiten Goldarmreif. Hat einen reichen Mann. Sie ist eine fiese Schlampe, die im Bett gern raue Spiele spielt. Ihr Ehemann hat’s gern bodenständig, also kommt sie hier her, um ein bisschen was Unanständiges zu erleben.«
Nun wird sie überhaupt nichts mehr erleben,
dachte Sebastian, dem es nicht behagte, dass Teaser von der Frau sprach, als ob sie jeden Moment aufstehen und sie auslachen würde, weil sie auf ihren ekelhaften Scherz hereingefallen waren.
»Lasst uns -«, Angst packte ihn plötzlich mit eiskalten Händen am Genick.
»Habt ihr das gehört?«
Der Bullendämon wackelte mit den Ohren und schnaubte. Sebastian hatte keine Ahnung, ob das ja oder nein hieß.
Mit einem Mal fühlte sich der Boden wieder weich an, fließend. Und er hätte bei allem, was ihm lieb und teuer war, schwören können, dass er ganz in der Nähe ein leises, bösartiges Lachen gehört hatte.
Er kannte den Pfuhl. Kannte diese kleinen Gassen genauso gut, wie er die großen Straßen kannte. Etwas stimmte hier nicht.
»Lasst uns gehen«, sagte er, während er sich von der Leiche entfernte. Bewegte sich dort oben etwas an der Wand? Etwas, das sich gerade außerhalb des Fackelscheins hielt? »Teaser, lass uns gehen.«
Die Gasse war nicht lang, aber es schien ihm, als müsse er sich für jeden Schritt stundenlang anstrengen, um ihn zurücklegen zu können.
Sie hatten die Hälfte des Weges bis zur Straße und der wartenden Menge geschafft. Er drehte sich wieder um und konzentrierte sich auf Philo und Mr Finch, zwei Menschen, die den Pfuhl gefunden und sich hier niedergelassen hatten.
Da hörte er es. Ein leises Kratzen, so als ob sich etwas an der Wand entlangschob.
Er dachte nicht nach. Er hatte keine Zeit zum Nachdenken, denn er war sich sicher, dass er, wenn er nicht
jetzt
aus dem Durchgang floh, genauso enden würde wie die Frau. Oder schlimmer.
Er rannte auf den Ausgang der Gasse zu. Zwischen einem Schritt und dem nächsten dehnte sich das Sträßchen wie warm gewordenes Karamell, und die Menge, die ihn erwartete, verschwand, als der harte Boden zu Sand wurde, der das Laufen erschwerte, der seine Schritte verlangsamte. Im nächsten Augenblick würde die Gasse verschwinden, und da wäre nichts als Sand, nichts als -
Nein!
Er war im Pfuhl. In einer
kurzen
Gasse. Fester Boden unter seinen Füßen. Steinerne Wände zu beiden Seiten. Teaser und der Bullendämon, die gleich hinter ihm liefen. Bekannte Gesichter, die nur ein paar Schritte entfernt auf ihn warteten. Nur ein paar Schritte entfernt. Nur -
Sie brachen aus dem Durchgang hervor und wurden von der Menge aufgefangen.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als Sebastian herumfuhr, taub gegenüber den Rufen und Fragen der Menschen und Dämonen um ihn herum.
Beinahe wäre er in eine andere Landschaft gezogen worden. Die Gasse hätte sich beinahe in eine andere Landschaft verwandelt. In einen schrecklichen Ort … von dem er niemals hätte zurückkehren können.
Die Gewissheit, dass in dieser anderen Landschaft etwas Grauenhaftes zugegen gewesen war, ließ seine Knie zittern.
»Ich brauch was zum Trinken.« So sehnlich, wie er sie vorher hatte erreichen wollen, sehnte er sich jetzt danach, der Menge zu entfliehen, also bahnte er sich einen Weg durch die dicht gedrängt stehenden Körper und machte sich auf zu Philos Restaurant.
 
Am anderen Ende der Gasse sah Er zu, wie die Menge dem Inkubus folgte, wie eine Herde verängstigter Schafe. Zu anderer Zeit wäre Er unter ihnen gewesen, als wohlhabender Herr mittleren Alters, der in den Pfuhl gekommen war, um sein Geld zu verspielen und sich mit den Frauen zu amüsieren. Zu anderer Zeit hätten sie Ihn betrachtet und nichts als Beute gesehen. Der Sukkubus, den Er vor ein paar Tagen getötet hatte, war sicherlich dieser Meinung gewesen. Der weibliche Mensch, der jetzt in der Gasse verfaulte, war weniger überzeugt davon gewesen, dass ein anderer »Mensch« ihr den gleichen sinnlichen Nervenkitzel bereiten könnte wie ein
Inkubus. Er hatte ihr gezeigt, dass Er nicht menschlich war - und darüber hinaus noch viele andere Dinge. Natürlich hatte sie die meisten dieser Dinge nicht sehen können, waren doch ihre Augen unter den ersten Körperteilen gewesen, die sie eingebüßt hatte.
Mit dem Rest ihres Lebens war auch die Angst aus ihr herausgeflossen, ein köstliches Festmahl der Gefühle, von Zeit zu Zeit gewürzt mit der Hoffnung, dass jemand sie sehen, dass jemand ihr helfen würde. Der Tod des Sukkubus, einer Kreatur, die sich weit von den Reinblütigen ihrer Art entfernt hatte, hatte das erste Flackern der Angst in den Herzen der Bewohner dieses Ortes entfacht. Aber das Entsetzen der Frau, das Er, während der wenigen Minuten, die es gedauert hatte, sie zu töten, umschmeichelt und genährt hatte, war in den Boden gesickert und hatte die Resonanz der Gasse so verändert, dass Er sie als Verbindung zu einer Seiner eigenen Landschaften nutzen konnte. So musste Er nicht die Landschaften Seiner Feinde durchqueren, um dieses Jagdgebiet erreichen.
Aber etwas hatte Seinen Versuch vereitelt, die drei männlichen Wesen in die Landschaft der Knochenschäler zu versetzen. Sie hatten die Grenze beinahe überschritten, hatten für einen Moment den Sand unter ihren Füßen gespürt. Aber etwas - oder jemand - war willensstark genug gewesen, um die Gasse aufrechtzuerhalten und hatte so dafür gesorgt, dass sie an diesem Ort blieben. Jeder, der so mächtig war, war ein Rivale, den es zu beseitigen galt.
Aber sogar ein mächtiger Rivale konnte geschlagen werden, wenn man nur seine Angst zu einer ausreichend scharfen Waffe schmiedete.
Er nahm eine Resonanz auf, sandte seinen Willen in den Boden um Ihn herum - und zwang Ephemera, Seinem Verlangen nachzugeben.
Zwischen den steinernen Wänden der Gasse wurde
der Boden um die Leiche zu rostfarbenem Sand. Er änderte die Form und Sein großer Körper wechselte die Farbe, um sich dem Stein anzupassen, während Seine acht Beine Ihn die Wand hinauftrugen. Dann wartete Er.
Einige Minuten später erschien der erste Knochenschäler und kurz darauf war der Sand von glänzenden schwarzen Körpern bedeckt.
Die Angst eines kleinen Mädchens vor Ameisen war das Samenkorn gewesen, das Er vor langer Zeit genährt hatte, indem Er die Angst anfachte, bis sie das kleine Mädchen erst überwältigt und dann langsam aufgezehrt hatte. Ihr Entsetzen war Tag für Tag durch das Land pulsiert, und hatte Ihm die Macht verliehen, aus etwas Kleinem und Natürlichem einen lebenden Albtraum zu erschaffen - einen Albtraum, den die Leute
Knochenschäler
nannten, weil Knochen das einzige waren, was sie von dem kleinen Mädchen übrig gelassen hatten, das ihr erstes Opfer geworden war.
Mit dem Seufzen eines befriedigten Liebhabers sah Er den letzten Knochenschäler verschwinden. Sie waren einfache Kreaturen und konnten die Gasse aus diesem Grund nicht betreten. Für sie existierte die Gasse nicht. Aber jeder, der auf dieser Seite der fließenden Grenze dazu verführt oder getrieben wurde, einen Fuß auf den Sand zu setzen, würde in der Landschaft der Knochenschäler verschwinden - und niemals zurückkehren.
Er kletterte die Wand hinab, und Sein Körper veränderte sich erneut, als Er den Sand berührte. In Gestalt eines Knochenschälers rannte Er über den Sand zu dem Zugangspunkt, den Er geschaffen hatte, der Ihn zurück zum Schlupfwinkel Seiner Feinde bringen würde - zu dem Ort, den sie die Schule der Landschafferinnen nannten. Dort hatte Er einen sicheren Ort gefunden, einen dunklen Ort, an dem Er sich verstecken konnte, während Er Seine Landschaften in anderen verankerte - und nach der Landschaft suchte, in der die Dunklen weilten.
Was die Menschen und die anderen Kreaturen, die in diesem Jagdgebiet lebten, betraf … Wenn sie zurückkehrten, um die Leiche der Frau zu holen, würden sie statt festem Boden Sand vorfinden, ein in Fetzen gerissenes, einst elegantes Kleid, einen breiten Goldarmreif … und saubere Knochen.
 
Müde setzte Sebastian sich auf einen Stuhl und stützte die Arme auf einen der Tische, die im Innenhof von Philos Restaurant herumstanden. Er zitterte am ganzen Körper, so als hätte dieser etwas begriffen, was sein Geist noch nicht ganz fassen konnte.
Teaser, der sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ, sah genauso bleich und genauso verängstigt aus.
Was war in dieser Gasse geschehen? Glorianna hatte ihm einst erzählt, dass niemand, ohne ein offenes Herz für das zu haben, was eine Landschaft in sich barg, dorthin gelangen konnte. Genauso, wie es nicht immer möglich war, in eine alte Landschaft zurückzukehren, wenn sich etwas im eigenen Herzen so verändert hat, dass es die Resonanz dieses Ortes nicht länger aufzunehmen in der Lage war.
Beim Überqueren einer Resonanzbrücke konnten die Grenzen und Randlinien, welche die Landschaften bestimmten, so unbeständig sein wie ein Traum. Die einzige Konstante in Ephemera war die ständige Veränderung.
Was hatte es also zu bedeuten, dass er, Teaser und der Bullendämon beinah in eine andere Landschaft übergetreten waren, ohne irgendeine Brücke überquert zu haben? Wie konnten sich zwei Landschaften so vereinen, dass man die eine schwinden sah, während die andere gleichzeitig stärker wurde?
Etwas Ähnliches hatte es im Pfuhl noch nie gegeben.
Philo, ein rundlicher Mann, dessen Haar sich langsam lichtete und der das beste Essen im ganzen Pfuhl servierte, eilte auf sie zu und stellte klirrend zwei Whiskygläser
auf den Tisch. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, aber seine Hände waren ruhig, als er die Gläser füllte und sie den beiden zuschob. Teaser stürzte sein Glas hinunter. Sebastian nahm erstmal einen vorsichtigen Schluck, ängstlich, dass der Alkohol seine Sinne trüben und ihn in einen Albtraum rutschen lassen könnte.
Die Menge sammelte sich auf der Straße vor dem Innenhof, aber Sebastian kam in den Genuss einiger Minuten der Stille, bevor Philo, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Das ist schon die zweite in nur zwei Wochen«, sagte Philo. »Es gibt keine Dämonenrasse, die so tötet. Kein Wesen des Pfuhls tötet auf diese Art. Deshalb haben wir Teaser gebeten, dich zu holen, als wir sie gefunden haben.«
BOOK: Sebastian
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