Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (8 page)

BOOK: Sebastian
7.11Mb size Format: txt, pdf, ePub
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Es spielte keine Rolle, welche Geschichte die Wahrheit war. Das alles war vor langer Zeit geschehen. Vor sechzehn
Jahren, um genau zu sein. Das wusste sie, weil Ewan, kurz nachdem sie zu Mutter gekommen war, seinen sechsten Geburtstag gefeiert hatte. Mutter hatte ihm als besondere Leckerei einen Kuchen gebacken. Als sie sich an diesem Abend bettfertig gemacht hatte, hatte sie Mutter erzählt, an welchem Tag ihr Geburtstag war, so dass Mutter, die doch jetzt ihre neue Mama war, wusste, an welchem Tag sie den Kuchen backen musste.
Aber zu ihrem Geburtstag hatte sie keinen Kuchen bekommen. Nicht in diesem und auch in keinem anderen Jahr. Weil es Geld und Zeit kostete, einen Kuchen zu backen. Kuchen war etwas für richtige Kinder und nicht für jemanden wie sie.
Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wann sie Geburtstag hatte. Wollte sich nicht daran erinnern. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, wie alt sie gewesen war, als Mutter sie am Straßenrand gefunden hatte. Aber sie wusste, dass es sechzehn Jahre her war, weil Ewan letzte Woche zweiundzwanzig geworden war - und Mutter ihm einen Kuchen gebacken hatte.
Ich wünsche mir, ich würde an einem anderen Ort leben. Ich wünsche mir, dass jemand mich liebt.
Närrische Wünsche. So wie alles andere, was sie sich je gewünscht hatte.
Sie wischte sich ein letztes Mal über die Augen und begann, die Eier einzusammeln.
 
Leise vor sich hin murmelnd, ging Glorianna mit schweren Schritten den Weg zu Sebastians Cottage entlang. Sie hatte gesehen, wie er und Teaser auf einem Dämonenrad die Hauptstraße in Richtung des anderen Endes des Pfuhls hinuntergerast waren, aber sie waren zu schnell an ihr vorbei gewesen, als dass sie ihn hätte rufen können. Sebastian hatte ein Bündel über der Schulter getragen, also hatte er wahrscheinlich vor, in eine andere Landschaft zu reisen.
Gelegenheit und Entscheidung. Sie hatte die Gelegenheit verpasst, mit Sebastian zu sprechen, und so würden sich viele Dinge anders entwickeln, als wenn sie es getan hätte. So war die Welt. So war das Leben.
In dem Moment, als sie in die grünen Augen dieses vorsichtigen Jungen geblickt und das tiefe Verlangen seines Herzens gespürt hatte, in dieses schöne Haus mit der netten Frau und den Kindern, die ihm nicht mit Grausamkeit begegneten, zu gehören, hatte sie gewusst, dass ihre Verbindung zu Sebastian anders war als ihre Verbindung zu Nadia und Lee. Auf die instinktive Art eines Kindes hatte sie gespürt, dass Sebastian großen Einfluss auf ihr Leben haben würde, genauso, wie sie auf das seine. Sie hatte damals nicht gewusst, dass die Liebe zu ihrem Cousin und der Wunsch, ihm zu helfen, ihr Leben in Stücke schlagen würde, aber …
Gelegenheit und Entscheidung. Sie hatte diese Entscheidung wegen Sebastian getroffen, aber es war
ihre
Entscheidung gewesen. Und obwohl sie es nie geschafft hatte, die Bruchstücke ihres Lebens wieder ganz zusammenzusetzen, bereute sie ihre Entscheidung nicht. Hatte sie nie bereut. Weil es ihn gerettet hatte.
»Sebastian«, sagte sie - und lächelte.
Auf einmal wurden die Strömungen der Macht so stark, dass es ihr für einen Moment den Atem raubte. Sie blieb stehen und stand einfach nur da, in der Mitte der Straße, und nahm das Gefühl, von dem sie gerade berührt worden war, tief in sich auf.
Ein Wunsch des Herzens. Mächtig. Von der Art, welche die Strömungen der Welt erzittern ließ.
»Sebastian?«, flüsterte sie - und fühlte erneut die Berührung des Herzenswunsches.
Der Wunsch war also
tatsächlich
von ihm gekommen. Vielleicht war das der Grund für sein Verlangen, eine andere Landschaft zu besuchen.
Trotz der Dinge, die sie in der Gasse gesehen hatte -
und ihrem Verdacht, wie
diese
bestimmte Landschaft in ihre eigene eingefügt worden war - fühlte sie, wie Freude in ihr aufstieg. Sebastians Herzenswunsch hatte die Aussicht auf so viel Licht in sich getragen. Er hatte schon mehrere Gelegenheiten, den Pfuhl zu verlassen und in eine andere Landschaft zu ziehen, unbeachtet verstreichen lassen, weil er noch nicht wirklich bereit gewesen war, sein Leben neu zu gestalten. Vielleicht würde er dieses Mal seinem Herzen folgen.
Der Pfuhl wäre nicht länger der gleiche, sollte Sebastian ihm je den Rücken kehren, aber auch der Ort hatte sich in den vergangenen Jahren stetig verändert, und dies mochte der Zeitpunkt sein, von dem an sowohl der Mann als auch die Landschaft eigene Wege gehen mussten. Ein schlechter Zeitpunkt natürlich, aber eine Landschafferin hatte kein Recht, auf die Reise des Lebens eines Menschen Einfluss zu nehmen, wie schwer es ihr auch manchmal fallen mochte.
In dem Wunsch, das Cottage schnell zu erreichen, lief sie weiter. Sebastian hätte nichts dagegen, wenn sie sich ein paar Stunden auf seine Couch legte. Sie musste sich eine Weile ausruhen. Sie brauchte den Frieden und die Einsamkeit, um nachzudenken.
Aber als sie sich dem Cottage näherte, wurde sie erneut von einer Welle der Machtströmungen erfasst. Diese war ein wenig schwächer, als sei sie nur der Ausläufer von etwas, was in weiter Ferne geschehen war, aber nicht weniger mächtig.
Noch ein Herzenswunsch. Und etwas anderes.
Glorianna strich ihr Haar zurück und rieb sich den Nacken, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, das sie beschlichen hatte.
Ihr war jetzt klar, dass sich ein Katalysator auf den Pfuhl zu bewegte - jemand, dessen Resonanz eine Veränderung herbeiführen würde. Und diese Veränderung schien sich auf das Cottage zu richten.
Sie ging hinein und hoffte, dass Sebastian seit ihrem letzten Besuch die Möbel nicht umgestellt hatte. Im Dunkeln ertastete sie sich den Weg zur Couch, ohne über etwas zu stolpern, warf ihr Bündel auf den Boden und ließ sich dann zu Boden fallen. Sie war sich darüber bewusst, dass sie nie wieder in der Lage wäre, aufzustehen und nach etwas Essbarem zu suchen, wenn sie sich jetzt richtig hinlegte.
Die Herzenswünsche oder der Katalysator waren kein Anlass, etwas zu unternehmen. Die Geschehnisse hatten sich in Bewegung gesetzt, aber hundert verschiedene Möglichkeiten konnten das Muster ändern, das diese Herzenswünsche und den Katalysator zusammenbringen könnte. Jetzt musste sie erst einmal über die Gasse und über eine Landschaft nachdenken, die vor langer Zeit aus der Welt genommen worden war und der es nicht möglich sein sollte, den Rest Ephemeras zu berühren. Und sie musste eine Möglichkeit in Betracht ziehen, über die sie eigentlich nicht nachdenken wollte.
Seufzend rieb sich Glorianna mit den Händen übers Gesicht. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatte, würde sie die Schule der Landschafferinnen aufsuchen und sich den verbotenen Garten ansehen, nur um sicherzugehen, dass der Weltenfresser noch immer hinter steinernen Mauern gefangen war.
Kapitel Vier
Hooja! Du kannst von Glück sagen, dass ich vorbeigekommen bin«, sagte William Farmer.
»Hm, ja«, murmelte Sebastian. »Glück …«
»Normalerweise nehme ich keine Fremden mit, so nah bei’ner Brücke. Kannst nie sagen, was von dort rüberkommt. Aber du siehst mir wie ein ganz normaler Kerl aus.«
Der Bauer verbrachte eine Minute damit, verschiedenste Geräusche von sich zu geben, die wahrscheinlich an die Pferde gerichtet waren, die den Wagen zogen, auf diese aber keinerlei Einfluss zu haben schienen. Schneller machte es sie jedenfalls nicht.
Reise leichten Herzens.
Sebastian schloss die Augen und versuchte, Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass der Bauer ihm angeboten hatte, mitzufahren. Selbst wenn er dem Weg, der von der Brücke fortführte, gefolgt wäre, hätte er Tage damit verbringen können, nach der Stadt der Zauberer zu suchen, weil ihn immer wieder irgendetwas aufgehalten hätte. Sein Unwille, sich den Zauberern auch nur zu nähern, stand in Konflikt mit dem Wissen, dass er genau dies tun musste. Aber Ephemera lauschte dem Herzen, nicht dem Kopf, und so hätte die Landschaft für genügend Hindernisse gesorgt, um ihn davon abzuhalten, die Stadt zu erreichen. Und das hätte die Reise zu einem reinen Willenskampf werden lassen - er gegen Ephemera. Irgendwann hätte er die Stadt wahrscheinlich trotzdem gefunden, aber die Menschen und Dämonen, die er im Pfuhl zurückgelassen hatte, hatten nicht so viel Zeit.
Und so hatte er, als der Weg auf eine größere Straße traf, das Angebot von William Farmer, der genau in diesem Moment mit seinem Wagen vorbei kam, als Geschenk angenommen. Wenn er die Gaben, die die Welt ihm bot, nicht zurückwies, würde seine Reise ruhig verlaufen
Niemand hatte je gesagt, solche Geschenke hätten keinen Preis.
Aber, so dachte er und warf dem Bauern einen finsteren Blick zu, wenn er sich den ganzen Weg zur Stadt der Zauberer das
Hooja
dieses Mannes anhören musste, war der Preis dieses Geschenkes doch unverschämt hoch.
»Du gehst wirklich in die Stadt, um mit einem Zauberer zu sprechen?«, fragte William.
Sebastian nickte bestätigend.
»Hooja! Weiß nicht, ob ich das machen würde. Die Zauberer sind nicht so wie die normalen Leute. Spielt keine Rolle, dass sie Rechtsbringer sind. Die haben diese Magie in sich, die sie anders macht. Ich würde nicht mit denen reden.«
Sebastian sah William von der Seite an. »Hast du schon mal einen Zauberer gesehen?«
»Klar hab ich schon mal einen gesehen. Von Zeit zu Zeit gehen sie auf die Märkte, wie jeder andere auch. Aber ich hab nicht mit ihnen geredet - und muss das hoffentlich auch nie.«
Irgendetwas - eine Veränderung im Tonfall oder der Körperhaltung - veranlasste Sebastian, den Mann etwas genauer zu betrachten.
»Warum machst du das?«, fragte er neugierig.
»Warum mach ich was?«
»So reden. Du bist doch kein Bauerntrottel.«
»Und warum glaubst du, das zu wissen?«, gab William entrüstet zurück.
Sebastian lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. »Du gibst dir zu viel Mühe. Die Bauern, die ich
bisher kennengelernt habe, verraten sich immer früher oder später, wenn sie versuchen, gehobener zu sprechen, als sie es gewohnt sind. Du suhlst dich in den Worten, wie ein …« Ihm fiel kein Vergleich ein, der nicht gleichzeitig eine Beleidigung gewesen wäre.
»Wie ein Schwein im Dreck«, ergänzte William hilfreich.
Sebastian nickte. »Genau.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Du bist vielleicht ein Bauer, aber du bist auf keinen Fall ein Trottel.«
Zum ersten Mal, seit Sebastian auf den Wagen gestiegen war, schwieg William. Schließlich sagte er: »Hast du vor, mich auszurauben?«
»Ich bin kein Dieb«, fuhr Sebastian ihn an. »Außerdem wäre es« -
kein Akt der Güte -
»falsch, dich auszurauben, nachdem du mich mitgenommen hast.« Im dämmrigen Licht des Abends sah er William genau an. Seine Kleidung war abgenutzt genug, um als gute Wahl durchzugehen, wenn man vorhatte, den ganzen Tag auf matschigen oder staubigen Straßen zu verbringen - es konnten aber auch die besten Kleider sein, die er besaß. Jeder Gelegenheitsdieb hätte nach einer Minute gemerkt, dass hier nichts zu holen war, und das Geschwätz entweder bis zum Ende der Reise ausgehalten oder an der nächsten Kreuzung die erste Gelegenheit zur Flucht ergriffen.
Alles in allem bot seine Kleidung ihm Schutz vor potentiellen Dieben, der die Resonanz des Mannes nicht veränderte, ähnlich einem Kaninchen, dessen Fell sich weiß färbt, um sich dem Land besser anzupassen, wenn der Sommer in den Winter übergeht.
Sebastian warf einen Blick über die Schulter auf die mit Obst und Gemüse gefüllten Körbe, die hinten auf dem Wagen standen. »Gibt es keinen Markt, der näher bei deinem Hof liegt? Du hast gesagt, es sei eine Tagesreise bis zur Stadt der Zauberer.«
William nickte. »Und heute war es eine lange Tagesreise. Normalerweise erreiche ich die Stadt lange vor Sonnenuntergang. Hat wahrscheinlich einen Grund, dass heute alles länger gedauert hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich verkaufe die Hälfte meiner Ernte auf dem Markt in meinem Dorf. Die andere Hälfte bringe ich in die Stadt.«
»Warum?«
William zögerte. »Jemand hat mir einmal gesagt, dass das, was du der Welt gibst, zu dir zurückkommt. Ich glaube, da ist was Wahres dran.«
Sebastian wandte sich ab. Der schwindende Tag bot noch genügend Licht, um zu reisen, aber er hoffte, dass der Bauer sein Gesicht nicht mehr deutlich erkennen konnte.
Er dachte an Glorianna, die ihn mit ihren klaren grünen Augen angeblickt und ihm genau das Gleiche erzählt hatte.
Was du gibst, kommt zu dir zurück, Sebastian. Nicht ganz »wie du mir, so ich dir« - so einfach ist das Leben nicht -, aber was du gibst, kommt immer zu dir zurück.
Die Erinnerung versetzte seinem Herzen einen Stich. Er vermisste Glorianna und Lee. Vor allem Glorianna. Zwischen ihnen bestand eine Verbindung, die stärker war als die zu Nadia oder Lee. Nichts... Körperliches. Niemals, trotz seiner Natur. Aber ihre Worte hatten stets sein Herz berührt und waren der Grund gewesen, aus dem er gelernt hatte, menschliche Bedürfnisse genauso zu berücksichtigen wie seine eigenen, wenn er als Inkubus auf die Jagd ging. Und ihre Worte aus dem Mund eines Fremden zu hören …
Es spielte keine Rolle, in welcher Landschaft sie sich jetzt aufhalten mochte oder was sie als ausgeschlossene Landschafferin tat, Glorianna Belladonna würde niemals etwas erschaffen, das einen grausamen Tod über eine Landschaft brachte. Wächter und Wahrer, die Welt barg
ohnehin schon genug Schrecken, ohne dass man noch mehr davon entfesselte.
BOOK: Sebastian
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